Drama | Russland 2003 | 105 Minuten

Regie: Boris Chlebnikow

Nach dem Tod der Frau und dem Verlust der Arbeit bricht ein Mann mit seinem elfjährigen Sohn von Moskau auf, um zur Halbinsel Krim zu reisen. Die symbiotische Verbindung zwischen Vater und Sohn wird dabei mehrfach gestört, um sich am Ende neu zu konstituieren. Der dialogarme, höchst bildintensive Debütfilm reflektiert über Menschen und Landschaften, das Wechselspiel von Bewegung und Ruhe, Bodenhaftung und neuer Zielsuche. Trotz einiger dramaturgischer Gleichförmigkeiten ein überzeugender, atmosphärischer und philosophisch grundierter Beitrag zur neuen Innerlichkeit im russischen Kino. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KOKTEBEL
Produktionsland
Russland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
PBOUL
Regie
Boris Chlebnikow · Alexej Popogrebsky
Buch
Boris Chlebnikow · Alexej Popogrebsky
Kamera
Shandor Berkeshi
Musik
Lutgardo Labad
Schnitt
Iwan Lebedew
Darsteller
Igor Tschernewitsch (Vater) · Alexander Iljin (Lastwagenfahrer) · Wladimir Kutscherenko (Hausbesitzer) · Gleb Puskepalis (Junge) · Agrippina Steklowa (Ärztin)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Die erste Einstellung dauert knapp drei Minuten und gibt Stimmung wie Rhythmus des Films vor. Zunächst ist, bei vollkommener Dunkelheit, nur das Geräusch strömenden Regens zu hören; dann, während der Morgendämmerung, erblickt man den Eingang eines Kanaltunnels unter einer Straße in freier Landschaft; ein Hund läuft schnüffelnd vorbei; schließlich kriechen zwei Gestalten aus der Öffnung, die sich später als Vater und Sohn erweisen. Das Ganze ist als Totale fotografiert, die Kamera verändert ihre Perspektive nicht, die Handlung ist auf ein Minimum reduziert. Wichtiger als das, was geschieht, ist die Atmosphäre, in der es geschieht: die Erde und der Himmel; die Landschaft und ihre Töne – auch die Stille, die niemals vollkommen sein wird.

Die Regisseure Boris Chlebnikow und Alexej Popogrebskij schicken ihre beiden Helden auf eine Reise von Moskau nach der Halbinsel Krim am Schwarzen Meer: aus dem unwirtlichen, winterlichen Norden in den frühlingshaften Süden; im direkten wie im übertragenen Sinne aus der Dunkelheit ins Licht. Es ist eine Reise, bei der nicht viele Worte gemacht werden, so dass auch für den Zuschauer erst spät erkennbar wird, warum sie eigentlich stattfindet: Nach dem Tod seiner Frau, vielleicht schon zuvor, muss der Vater, ein Ingenieur, in den Alkoholismus abgedriftet sein und seine Arbeit verloren haben; jetzt will er zu seiner Schwester nach Koktebel. Der elfjährige Sohn ist mit ihm symbiotisch verbunden. Im Laufe des Films wird diese Verbindung mehrfach gestört und irgendwann ganz unterbrochen. Der Sohn verlässt den Vater, um seinen eigenen Träumen näher zu kommen. Erst das Schlussbild stellt die Partnerschaft, nunmehr auf neuer Ebene, wieder her.

„Koktebel“ ist ein Film, der eine ganze Reihe von Motiven anschlägt. So reflektieren Chlebnikow und Popogrebskij über das Wechselspiel von Bewegung und Ruhe, Bodenhaftung und Zielsuche. Wichtig für die Emanzipation des Kindes werden Symbole des Fliegens: Das Interesse des Jungen gilt den weit ausgebreiteten Schwingen von Falken und Albatrossen; als er vom Vater erfährt, dass auf der Insel Krim ein Hügel existiert, auf dem die Winde für Flugversuche besonders günstig sind, gibt es für ihn kein Halten mehr, und tatsächlich gelingt es ihm am Ziel der Reise, wenn auch erst nach mehreren Versuchen, ein Blatt aus einem alten Buch schweben zu lassen. In diese Symbolkette gehört auch die fast am Ende des Films platzierte Szene mit einer Möwe, die sich auf dem Landungssteg am Ärmel des Jungen zu schaffen macht, von ihm daraufhin gewürgt und erst im letzten Moment in die Lüfte entlassen wird. Von dort oben, aus der Vogelperspektive, beobachtet die Kamera dann, wie sich Vater und Sohn wieder begegnen und aufs Meer schauen. Der Sinn dieser einmalig „erhebenden“ Kameraperspektive liegt auf der Hand: Der Traum vom Fliegen bleibt eine schöne Hoffnung; aber der Blick der beiden Helden in die Weite wird vorerst noch immer vom Boden ausgehen.

Eines ihrer Ziele, so ließen die Regisseure wissen, sei die Beschreibung russischer Landschaften und ihrer Bewohner gewesen. Allerdings begegnen Vater und Sohn nur einer Handvoll Männer und Frauen, die von Chlebnikow und Popograbskij jeweils nach ähnlichem dramaturgischen Strickmuster behandelt werden. Die Figuren werden fast immer anders eingeführt, als sie sich dann entpuppen: Der Mann von der Eisenbahn, der Vater und Sohn befiehlt, aus dem Güterwagen zu steigen, bietet ihnen bald darauf Essen und Trinken an; der bullige LKWFahrer, der sich dem davongelaufenen Sohn am nächtlichen Lagerfeuer als „Menschenfresser“ vorstellt, nimmt den Jungen in seinem Auto auf die Krim mit. Anders dagegen jener Mann im einsamen Haus, dem die Reisenden zwar das Dach reparieren, der aber im betrunkenen Zustand keinen Lohn zahlen will und mit dem Gewehr auf die beiden losgeht. Am gefährlichsten für den Jungen erweist sich schließlich eine alleinstehende Ärztin, die den Vater gesund pflegt, und bei der er bleiben will: eine Frau, durch deren Anwesenheit sich die Männer, wenn auch in unterschiedliche Richtung, emanzipieren.

Die dramaturgische Gleichförmigkeit, mit der diese Figuren geführt sind, die damit verbundene wiederkehrende Aufforderung an den Zuschauer, sich nicht dem ersten Eindruck hinzugeben, macht den Film etwas durchsichtig; allerdings resultiert aus den konfrontativen Schnitten auch leiser Humor. Ärgerlich sind hingegen einige Anschlussfehler, zum Beispiel während der Zugfahrt, bei der der Vater aus dem Waggon klettert, Äpfel aufsammelt, sie beim Anfahren wieder wegwirft – um dann doch eine Schüssel voll mit dem Sohn zu verspeisen. Insgesamt aber erweist sich „Koktebel“ als eine stimmungsvolle, atmosphärisch hingetupfte, philosophisch grundierte Geschichte, die ähnlich wie Andrej Swjaginzews gefeiertes Drama „Rückkehr“ (fd 36 414) eine neue Innerlichkeit im russischen Kino repräsentiert.

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