Wild Side (2004)

Drama | Frankreich/Belgien/Großbritannien 2004 | 91 Minuten

Regie: Sébastien Lifshitz

Eine Transsexuelle und ihr Freund, ein Stricher, führen in Paris ein tristes Leben zwischen Diskotheken und Straßenstrich. Als sie einen Russen aufnehmen, der vor dem Tschetschenien-Krieg floh, erweitert sich ihre Beziehung zur Menage à trois. Zusammen reisen sie in den Norden des Landes, um die im Sterben liegende Mutter der Transsexuellen zu besuchen, wobei jeder mit seinen Wurzeln und Erinnerungen konfrontiert wird. Ästhetisch versierter, hervorragend gespielter psychologischer Film, der den Zuschauer extrem nahe an die Figuren heranführt und an ihrem Leben und ihren Gefühlswelten teilnehmen lässt, obwohl sich das Fehlen einer stringenten Handlung auf Dauer doch bemerkbar macht. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WILD SIDE
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Großbritannien
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Maïa Films/YC Alligator Film/Zephyr/arte France Cinéma/AB 3/Canal +/CNC/Ciné Cinémas
Regie
Sébastien Lifshitz
Buch
Stéphane Bouquet · Sébastien Lifshitz
Kamera
Agnès Godard
Musik
Jocelyn Pook
Schnitt
Stéphanie Mahet
Darsteller
Stéphanie Michelini (Stéphanie) · Edouard Nikitine (Mikhail) · Yasmine Belmadi (Djamel) · Josiane Stoléru (Die Mutter) · Antony Hegarty (Sänger)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Pro-Fun (1:2.35/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Als Neben-, Rand- und Witzfiguren haben sich Homosexuelle (Schwule mehr als Lesben) mittlerweile im Mainstreamkino etabliert. Seit einigen Jahren zeichnet sich zudem ein Trend ab, dass Filme, die sich im vielfältigen Spektrum zwischen Blockbustern und Nischenproduktionen bewegen, vermehrt auch Figuren ins Zentrum ihrer Geschichten rücken, die nicht den herkömmlichen heterosexuellen Vorstellungen entsprechen. „Agnes und seine Brüder“ (fd 36 370) oder „Sommersturm“ (fd 36 662) sind jüngste Beispiele aus der deutschen Filmlandschaft. Mit „Sommersturm“ gelingt es Marco Kreuzpainter beispielsweise auf raffinierte Weise, im Schutze der Frische eines Teenager-Films recht ausführliche und anschauliche Schwulensexszenen auf die Leinwand zu schmuggeln. Dem auf der „Berlinale“ 2004 mit dem „Teddy“ ausgezeichneten „Wild Side“ fehlt diese Lockerheit, und so steht zu befürchten, dass die intime Nähe seiner Kamera angesichts der rauen und oft kalten Wirklichkeit, die Sébastien Lifshitz’ Film einfängt, ein breiteres Publikum eher abschrecken wird. Dabei ist es gerade diese Nähe, die einen voyeuristischen Blick verhindert, indem sie die Protagonisten nicht ausstellt oder vorführt, sondern fast kommentarlos begleitet. Um den Körper seiner Heldin, der transsexuellen Stéphanie, macht Lifshitz von Anfang an weder ein Geheimnis noch ein Spektakel; er zeigt ihn ganz einfach in von der Kamerafrau Agnès Godard wunderschön ausgeleuchteten Bildern, weder reißerisch, noch provokativ, sondern ruhig und selbstverständlich (weshalb der Titel „Wild Side“ eher unglücklich gewählt scheint). Damit aber ist die Exposition auch schon zu Ende. Konsequent verzichtet Lifshitz darauf, seine Figuren, ihre Beziehungen und Verhältnisse zu erklären, die Handlung aufzubauen. Unvermittelt ist man mittendrin in ihrem Pariser Alltag. Stéphanie lebt und arbeitet nachts. In pulsierenden Diskotheken und auf dem trostlosen Straßenstrich. Auch ihr Freund Djamel ist Gelegenheitsstricher, in der Bahnhofstoilette bedient er Männer und Frauen gleichermaßen. Lifshitz schildert den Strich als eine gefühllose Maschinerie, aber in ästhetisch verklärten Einstellungen. Er meidet das Widerwärtige, Hässliche und beschreibt seine Figuren als würdevolle Menschen, nicht als kaputte Typen. Als Stéphanie Mikhail kennen lernt, den es auf der Flucht vor seinen Erinnerungen an den Tschetschenienkrieg aus seiner russischen Heimat nach Paris verschlagen hat, kommen sich beide schnell näher. Ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit treibt sie einander zu. Als Stéphanie dann plötzlich die Nachricht erhält, ihre Mutter sei sterbenskrank, folgen ihr Mikhail und Djamel in den ländlichen Norden Frankreichs. Am Bett ihrer Mutter erinnert sich Stéphanie an ihre Kindheit als Pierre. Doch imaginiert sie sich selbst als Mädchen, das mit Vater und Schwester glücklich herumtobt. Beide sind mittlerweile tot, und so ringt Stéphanie um das Verständnis und die Anerkennung ihrer Mutter, die in ihr noch immer gern den kleinen Jungen sehen möchte. Mikhail schlägt sich derweil mit seinem Kriegstrauma herum und verzehrt sich nach seinem Elternhaus, in das er sich doch nicht zurücktraut. Gleichzeitig entwickelt sich zwischen Stéphanie, Mikhail und Djamel eine nicht unproblematische, aber liebevolle Dreiecksbeziehung. Erinnertes und Erlebtes lässt sich bald kaum noch auseinander halten. Bewusst liefert Lifshitz dem Zuschauer keine Orientierung und hilft ihm nicht, sich zurechtzufinden, sondern lässt ihn mit seinen Figuren allein in deren Welt. So entsteht ein intensives, authentisches Gefühl, an einer anderen, fremden Lebenswirklichkeit teilzu-haben. Viel Befremdliches verliert dadurch seine Schärfe. Fast kann man die Personen verstehen, ihre Wünsche und Ängste fühlen. Die Nähe allerdings geht auf Kosten der Überschaubarkeit, so dass die Handlung sich teilweise nur mit Mühe aus den gesehenen Lebens- und Erinnerungsausschnitten rekonstruieren lässt. Ganz in der Tradition des französischen Kinos, pflegt „Wild Side“ den feinen, psychologischen Blick. Es ist ein Film voller emotionaler Momente, ohne dick aufzutragen. Ein cineastisches Kleinod der Zwischentöne. Und ein Schauspielerfilm. „Wild Side“ lebt von seinen hervorragend dargestellten, im Wortsinn „verkörperten“ Charakteren. Vor allem die beiden Debütanten Stéphanie Michelini und Edouard Nikitine, aber auch Josiane Stoléru als Stéphanies Mutter lassen einen dank ihrer grandiosen Darbietungen beinahe den Unterschied zwischen Figur und Darsteller vergessen. Das Problem dieser hautnah-psychologischen Studie ist, dass – wie nicht selten bei französischen Filmen – das innere Drama, die Figurenentwicklung, mit keiner äußeren Dynamik korrespondiert, wodurch der Film zwar einerseits lebensecht bleibt, andererseits bisweilen aber auch ein wenig zäh und anstrengend wirkt. Doch dafür, dass Lifshitz’ Film einen anderthalb Stunden lang als unsichtbaren Teilnehmer mit seinen außergewöhnlichen und zugleich ganz normalen Helden mitleben und -fühlen lässt, lohnt es allemal, sich ein wenig anzustrengen.
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