Drama | Großbritannien/Deutschland 2004 | 84 Minuten

Regie: Kenneth Glenaan

Eine junge Pakistani der zweiten Generation hat sich in Nordengland zwischen den Kulturen eingerichtet und ihren individuellen Weg gefunden. Ihre Situation ändert sich schlagartig nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York. Der lehrstückartig entwickelte Film führt sinnfällig vor Augen, wie rasch die interkulturellen Annäherungen der letzten Jahrzehnte hinweggefegt werden können. Dass vor allem die Alten und Frauen unter der regressiven Entwicklung leiden, wird ebenso scharfsinnig wie zornig registriert, wobei der Film in der bitteren Erkenntnis gipfelt, dass es ein Weiterleben wie zuvor nicht geben wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
YASMIN
Produktionsland
Großbritannien/Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Parallax/EuroArts Medien
Regie
Kenneth Glenaan
Buch
Simon Beaufoy
Kamera
Tony Slater-Ling
Musik
Stephen McKeon
Schnitt
Kristina Hetherington
Darsteller
Archie Panjabi (Yasmin Husseini) · Renu Setna (Khalid) · Steve Jackson (John) · Syed Ahmed (Nasir) · Shahid Ahmed (Faysal Husseini)
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Plötzlich laufen überall Fernsehgeräte, um die sich Menschen wie um ein Lagerfeuer scharen. Am Arbeitsplatz, wo gerade eine Geburtstagsfeier stattfindet, in den Wohnungen und auch vor den Auslagen der Elektrogeschäfte. Zu sehen sind die Bilder vom Morgen des 11. September 2001, von den brennenden Türmen des World Trade Center und dann auch schon – Film ist schließlich Montage – vom Einsturz der Türme. Die Menschen sehen die Bilder mit ungläubigem Staunen, selbst der Fernsehsprecher scheint fassungslos – und nur ein junger Pakistani dreht sich mit unverhohlener Genugtuung über das Geschehen zu seinen Freunden. Mit diesem Tag wird das Leben nicht nur in New York nicht mehr dasselbe sein, das wird sofort klar, und „Yasmin“ beschreibt es präzise wie kaum ein Film zuvor. In einer kurzen, aber ungemein aussagekräftigen Montage-Sequenz zeigt der Film, wie die Straßen plötzlich leergefegt scheinen; in eine erste Ansprache von US-Präsident Bush („Ich werden die feigen Täter jagen und bestrafen“) mischen sich bereits Hubschraubergeräusche – der Krieg gegen den Terrorismus hat begonnen. Am Arbeitsplatz kursieren schnell die ersten rassistischen Witzeleien. Zuvor jedoch sorgt der Film in exemplarisch verdichteten Szenen für die dramaturgisch nötige Fallhöhe. Yasmin ist eine Pakistani der zweiten Generation, die in Nordengland ganz pragmatisch und ausgesprochen selbstbewusst den Spagat zwischen den Kulturen und Generationen versucht. Morgens verlässt sie verschleiert ihre Familie und zieht sich auf dem Weg zur Arbeit um. Sie ist mit Faysal verheiratet, aber nur zum Schein, um Faysal britische Papiere und eine Aufenthaltsgenehmigung zu verschaffen. Die Bedingungen dieser Scheinehe zeichnet der Film mit teilweise drastischem Humor, bestätigt doch Faysals Verhalten – er kocht im Freien, weil er keinen Herd bedienen kann, und hält sich eine Ziege als „Frau“ – alle Vorurteile kultureller Unterschiede zwischen der ersten und der dritten Welt. Yasmins Vater führt die Moschee und leidet unter der Verwestlichung seiner Tochter, die viel weiter fortgeschritten ist als er ahnt. Yasmins Bruder Nasir hält sich als Kleindealer über Wasser und träumt Macho-Träume. Er wird es sein, der seinem Vater gegenüber die Terroranschläge als „stylish“ bezeichnet (und damit auf heftigsten Widerspruch stößt!) und davon spricht, als Kämpfer nach Afghanistan zu gehen. Innerhalb dieser höchst widersprüchlichen, aber oberflächlich alltagstauglichen Gemengelage von Fremdheit und Integration, Tradition und Moderne fungiert der Terroranschlag als Lackmustest. Die Gesellschaft bezieht unvermittelt Stellung in den Schützengräben eines ideologischen Bürgerkriegs, was Yasmin als erste zu spüren bekommt, wenn an ihrem Arbeitsplatz die liberale Tünche brüchig wird. Faysal dagegen, der archetypische „Fremde“, gerät aufgrund einiger Anrufe in der Heimat ins Visier der Terrorfahnder, für die der Ausnahmezustand ausgemacht ist. Auf die Suche nach dem mutmaßlichen Terroristen dringen schwerbewaffnete Spezialeinheiten in die Wohnungen der Pakistanis ein. Fast zeitgleich tauchen in der Community radikale Islamisten auf, die vorgeben, die Anwohner über ihre Rechte aufklären zu wollen. Gerade bei den Jugendlichen der Community, die die Körpersprache des HipHop internalisiert haben, finden die Kriegsfotos aus Palästina oder Tschetschenien und auch die Heilsversprechen, als Märtyrer direkt in den Himmel zu kommen, gehörige Resonanz. Gegen ihre als Kleinkriminelle „gelungene“ Assimilation steht jetzt die Option, ein „guter Moslem“ zu werden. Nasir entscheidet sich, als Kämpfer nach Pakistan zu gehen, und der Film findet dafür das eindeutige Bild, die Figur in einen Tunnel gehen zu lassen. Yasmin bleibt nur die Möglichkeit, ihren Segen zu diesem Entschluss zu verweigern. Immer wieder erzählt der Film auch von der Macht der Medien, der Fernsehbilder, Fotos und Flugblätter, die dazu beitragen, die Gesellschaft zu polarisieren: An Aufklärung und Räsonnement herrscht kein Bedarf mehr. In einer Einstellung schaltet Yasmins Vater Khalid resigniert die Fernseher im Elektrogeschäft, in dem er tagsüber arbeitet (und sich, solche Differenzierung gab es zu Beginn des Films noch, mit seinem indischen Mitarbeiter streitet) aus. Die Medien transportierten einst Informationen, lockten vielleicht gar zum Leben in Übersee, doch mittlerweile schüren sie Hass. Die jungen Pakistanis schauen schon längst Ausbildungsvideos über die Handhabung von Flugabwehrraketen. Als Yasmin einmal versucht, Faysal im Gefängnis zu besuchen, damit er die Scheidungspapiere unterschreibt, wird sie selbst verhört. Sie erlebt ihre ganz persönliche „Catch 22“-Situation: Die Terrorfahnder wollen Informationen von ihr, wissen aber nicht, welche Informationen sie wollen. Yasmin hat aber keine Informationen zu bieten. Weil die Terrorfahnder keine konkreten Fragen stellen, kann Yasmin nichts erzählen. Also soll sie wegen der Zurückhaltung von Informationen bestraft werden. Yasmin beweist wiederholt Zivilcourage gegenüber Behörden und auch im Alltag, doch ihre Kraft reicht nicht, um den ungleich schwieriger gewordenen kulturellen Spagat durchzuhalten. Auch ihr Vater resigniert: Nachdem sein Sohn verschwunden ist, muss er in der Moschee wieder auf ein Tonband zurückgreifen, wenn er zum Gebet rufen will. Es sind die Alten und die Frauen, die in diesem Film gettoisiert zurückbleiben. Ein Weiterleben wie zuvor wird es nicht geben. „Yasmin“ stellt mit verhaltener Wut und lehrstückartiger Präzision fest, dass die politischen Kurzschlussreaktionen auf die Herausforderung des internationalen Terrorismus die interkulturellen Annäherungen der letzten 30 Jahre hinweggefegt haben. Der Film registriert dies so scharfsinnig wie zornig, ist aber selbst der (idealistische) Gegenbeweis seiner konstatierten Einsicht, denn die Zusammenarbeit des schottischen Regisseurs Kenny Glenaan und seines Drehbuchautors Simon Beaufoy („The Full Monty“) funktioniert nur deshalb so stimmig, weil sie (noch) auf vorzügliche pakistanische Darsteller trafen, deren politisches Bewusstsein und auch Selbstironie für die Darstellung kultureller Eigenarten hinreichte, um an diesem außerordentlich wichtigen politischen Filmprojekt mitzuwirken.
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