One Way Boogie Woogie / 27 Years Later

Dokumentarfilm | USA 1977/2005 | 121 Minuten

Regie: James Benning

Im Jahr 1977 drehte James Benning einen 60-minütigen Film, der aus 60 einminütigen Szenen von städtischen Gewerbegebieten in Milwaukee besteht, wobei jede Einstellung eine präzise Anordnung aus Horizontalen, Vertikalen und geometrischen Formen ist. 27 Jahre später kehrte er an die alten Schauplätze zurück und stellte jede Einstellung bzw. Kameraposition nach, wobei er die ursprüngliche Tonspur übernahm. Beide Filme funktionieren einzeln betrachtet als autonome Kunstwerke, sind im direkten Zusammenspiel aber eine zusätzlich anregende, höchst faszinierende Reflexion über Erinnerung und Zeit.
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Filmdaten

Originaltitel
ONE WAY BOOGIE WOOGIE - 27 YEARS LATER | 27 YEARS LATER
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1977/2005
Produktionsfirma
James Benning
Regie
James Benning
Buch
James Benning
Kamera
James Benning
Schnitt
James Benning
Länge
121 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb | TMDB

Diskussion
Seit den frühen 1970er-Jahren macht James Benning Filme, die strengen Ordnungssystemen folgen. Ob „Four Corners“, „13 Lakes“ oder „Ten Skies“ – der strukturalistische Ansatz lässt sich mitunter schon am Titel ablesen. Um reines Konzeptkino handelt es sich bei den experimentellen Filmen des Amerikaners dennoch nicht. Denn Benning verbindet ästhetische und dokumentarische Interessen, Formalismus und „storytelling“, strukturelle Untersuchungen und eine kindliche Freude am Verspielten. „One Way Boogie Woogie/27 Years later“ liegt ein „doppeltes“ Konzept zugrunde. 1977 drehte Benning „One Way Boogie Woogie“, das „Original“ gewissermaßen – einen 60-minütigen Film, der aus 60 einminütigen Einstellungen von städtischen Gewerbegebieten in Milwaukee besteht. 27 Jahre später kehrte Benning an die alten Schauplätze zurück und stellte jede Einstellung bzw. Kameraposition nach, wobei er die ursprüngliche Tonspur übernahm. Die beiden Filme funktionieren einzeln betrachtet als autonome Werke, lassen sich aber im direkten Zusammenspiel – sie werden im Kino nacheinander gezeigt – als eine faszinierende Reflexion über Erinnerung und Zeit verstehen. Dass dieses Moment für Benning auch ein persönliches ist, wird durch den distanzierten, auf Formen und Strukturen gerichtete Blick zunächst verstellt. Doch Milwaukee ist Bennings Heimatstadt, ein Ort, dessen Industriegebiet zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits im Niedergang begriffen war. Fabriken wurden geschlossen, die Stahlgießereien verrosteten – auch wenn der rauchende Schornstein ein wiederkehrendes Motiv bildet, das sich gegen den Eindruck von Stillstand zur Wehr zu setzen scheint. In satten, leuchtenden Farben nimmt die Kamera Fabriken, Industriehöfe, Straßen, Bordsteine und Häuserwände in den Blick. Jede Einstellung ist eine präzise Anordnung aus Horizontalen (Straßen und Gehwege), Vertikalen (Schornsteine, Telefonmasten) sowie geometrischen Formen (Gebäude, Türen, Fenster). Nicht von ungefähr wurden Bennings Filme mit den geometrischen Kompositionen Piet Mondrians verglichen – eine Referenz, die der Filmemacher gezielt mitbefördert hat. „Broadway Boogie Woogie“ heißt ein berühmtes Bild Mondrians, dessen Titel er in Anspielung auf die zahllosen Einbahnstraßen Milwaukees in leicht modifizierter Form übernommen hat. Der Schauplatz von Arbeit und industrieller Produktion wird bei Benning auch als kinematografischer Raum begriffen. So wird das Verhältnis von Fläche und Tiefe immer wieder neu durchexerziert und vermessen. Aufnahmen, in denen etwa Türen und Fenster wie monochrome Flächen ins Bild „gesetzt“ sind, wechseln mit Einstellungen, die explizit auf den dreidimensionalen Raum hinweisen – etwa durch parallel stattfindende Aktionen im Vorder- und Hintergrund. Einige Male bemisst Benning den Raum sogar ganz buchstäblich mit Messlatte und Maßband. In einer anderen Szene wird er regelrecht „aufgerollt“: Im Bildvordergrund ist groß eine Hand zu sehen, die ein Wollknäuel hält. Eine Frau greift das lose Ende und bewegt sich damit immer mehr in den Hintergrund des Bildes; sie wird zunehmend kleiner, während sich der Bildraum vergrößert. Als weiteres Element kommt hinzu, dass der Raum durch die Tonspur erweitert wird. Man hört aus dem Off ein lautes, tiefes Brummen, ein Schwertransporter, denkt man. Statt dessen läuft ein kleiner Junge ins Bild, der ein Spielzeugauto hinter sich herzieht. Ähnlich komische, zu Pointen verdichtete Erzählmomente durchbrechen immer wieder die Strenge des konzeptuellen Ansatzes: Eine Frau steigt in ein Auto und fährt links aus dem Bild, um kurz darauf von der rechten Seite wieder hinein zu fahren. Ein Mann trägt eine Mondrian-Kopie durch das Bild. Ein Kinderwagen rollt allein eine Straße entlang. Über den entrückend schönen Bildern von „One Way Boogie Woogie“ schwebt eine leichte Melancholie – die Zeit wird nur scheinbar gedehnt, tatsächlich offenbart sich hier ihre Flüchtigkeit; fast hat man das Gefühl, die Bilder wüssten um ihr baldiges Verschwinden. „27 Years later“ mutet dagegen sachlich an. Die Farben sind kühl und klar, teilweise ist die rostige Patina der Gebäude durch glatte und neutrale Oberflächen ersetzt worden. Mauern und Sicherheitszäune bestimmen das Bild, die Schornsteine rauchen nicht mehr, und die amerikanische Flagge weht nun in verblichenen Farben ausgefranst und löchrig am Mast. Als Remake lässt sich „27 Years later“ kaum bezeichnen, geht es doch weniger um eine aktualisierte Bestandsaufnahme des Ortes oder um die Anpassung an eine zeitgenössische Bildsprache als vielmehr um das „Gespräch“ zwischen den Filmen. Im Kopf versucht man, die neuen mit den alten Aufnahmen zur Deckung zu bringen. Die Tonspur ist dabei oft eine Erinnerungshilfe, sie bringt die verschwundenen Bilder wieder an die Oberfläche. Andere bleiben dagegen für immer verschwunden.
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