Edelweißpiraten

Drama | Deutschland/Schweiz/Niederlande/Luxemburg 2004 | 100 Minuten

Regie: Niko von Glasow

Fiktives Drama über die Edelweißpiraten in Köln, lose organisierte Jugendgruppen aus dem Arbeitermilieu, die während der NS-Zeit auf Distanz zum Regime gingen, sich mit der HJ angelegten und Anti-Nazi-Parolen an die Wände malten. Als zwei Brüder auf einen entflohenen KZ-Sträfling stoßen, nimmt ihr spielerischer Widerstand organisiertere Formen an. Der Film räumt mit der Diskreditierung der Edelweißpiraten als Kleinkriminelle auf und setzt dem proletarischen Widerstand ein Denkmal. Inszenatorisch eher durchwachsen, überzeugen die mäandernden Episoden durch ihre bedrängende Alltagsrealität einer zerbombten und ausgehungerten Stadt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Schweiz/Niederlande/Luxemburg
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Palladio Film/First Floor Features/WDR/X-Filme Creative Pool
Regie
Niko von Glasow
Buch
Kiki von Glasow
Kamera
Jolanta Dylewska
Musik
Andreas Schilling
Schnitt
Oli Weiss · Andreas Wodraschke
Darsteller
Iwan Stebunov (Karl Ripke) · Bela B. Felsenheimer (Hans Steinbrück) · Jochen Nickel (Josef Hoegen) · Anna Thalbach (Cilly Serve) · Jan Decleir (Ferdinand Kütter)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
VCL (1:1.85/16:9/Dolby Digital EX 5.1)
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Diskussion
Die „Gangs of Köln-Ehrenfeld“: Man muss sich an die forcierte Naivität von „Edelweißpiraten“ wohl erst gewöhnen, ja, vielleicht sogar dazu zwingen, dies zu tun. In einer doppelten Rückblende erzählt „Edelweißpiraten“ die Geschichte der beiden letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive der Kölner Brüder Karl und Peter Ripke. Während der jüngere, Peter, bei der HJ ist, gehört Karl zu den Edelweißpiraten, die zunächst wenig mehr als „anders sein“ wollen. Sie entziehen sich dem Zugriff des NS-Staates, dem militärischen Drill und den Hierarchien, die durchaus klassenspezifisch organisiert sind. Man kleidet sich anders und hört andere Musik – und man ist in der Gruppe mit Mädchen zusammen. Regisseur Niko von Glasow entwirft das romantische Bild einer Jugendbewegung, die „jung, leidenschaftlich, wild und rebellisch“ sein soll. Inmitten der unübersichtlichen Trümmerlandschaft, die der Bombenkrieg aus Köln gemacht hat, liefern sich die Edelweißpiraten Schlägereien mit der Hitler-Jugend, malen Parolen an die Wand oder organisieren Lebensmittel. Das lässt den Krieg zunächst fast wie einen spektakulären Abenteuerspielplatz erscheinen. Doch als der entflohene KZ-Häftling Hans Steinbrück zu den Jugendlichen stößt, ändert sich die Tonlage, auch die des Films. Steinbrück will dem Widerstand eine Richtung geben, plant Sabotage-Akte und das Verstecken von Juden, warnt aber die Jungen zugleich davor, sich nicht zu überschätzen. Dennoch wird Steinbrück für die Jungen zum Vaterersatz, zu einem, der die abwesenden Väter „ersetzt“. „Edelweißpiraten“ sammelt mäandernd Episoden vom Überleben unter den Bedingungen des Nazi-Terrors und des alliierten Bombenkriegs, erzählt aber auch vom Abenteuerlichen, das aus dem allmählichen Zusammenbruch des Staates resultiert. Zugleich ist Steinbrück jedoch auch ein Eindringling in das Gefüge beschädigter Familien, was insbesondere Karl eifersüchtig werden lässt. Mit pointiertem Einsatz der Handkamera, Schwenks und Zooms und einer rasanten Montage verdoppelt der Film nicht nur die Unübersichtlichkeit des Geschehens, sondern auch den Bewusstseinstand seiner Protagonisten. Erst als der Ortsgruppenleiter Soentgen ermordet wird, verleiht der Einsatz der Gestapo dem Film eine stärker lineare Struktur. Mit unerbittlicher Härte werden die Edelweißpiraten nun verfolgt, verhaftet und gefoltert. Schließlich wird eine Gruppe von ihnen im November 1944 als Exempel öffentlich gehenkt. „Edelweißpiraten“ erinnert an den instinktiven, wenig strukturierten, vielleicht auch proletarischen Widerstand unter dem NS-Regime, dessen Präsenz erst in diesem Jahr von offizieller deutscher Seite gewürdigt wurde. Vorher dienten ausgerechnet die Verhörakten der Gestapo offiziellen Stellen zur Diskreditierung der Edelweißpiraten als Kleinkriminelle. Insofern ist „Edelweißpiraten“ auch ein Film zur rechten Zeit: Nachdem das deutsche Kinopublikum daran gewöhnt wurde, Hitler menschlich zu sehen und den Terror zu trivialisieren („Der Untergang“, fd 36 679), nachdem der Faschismus zum gleichberechtigten Partner eines intellektuellen Disputs erklärt wurde („Der neunte Tag“, fd 36 779) und dem Bildungsbürgertum und dem Militär die Gelegenheit gegeben wurde, seinen Widerstand durch edle, leise und mit ihrem Gewissen ringende Helden zu authentifizieren („Sophie Scholl – Die letzten Tage“, fd 36 917; „Stauffenberg“) – nach all dem erinnert Glasow mit seinem „schmutzigen“ kleinen Film an die Möglichkeit einer deutschen Resistenza. In einer der irrwitzigsten Szenen des Films fährt die Gruppe um Hans Steinbrück durch Köln und schießt auf alles, was eine Uniform trägt. Auf diese Herausforderung reagiert die Gestapo mit härtester Folter, was der Realität sicher näher kommt als der diskussionsfreudige Staatsanwalt in Marc Rothemunds „Sophie Scholl“-Szenario. Die Edelweißpiraten beschämten mit ihrem Handeln all die Deutschen, die nach dem Krieg vorgaben, von nichts gewusst zu haben, um nicht schuldig geworden zu sein. Der Film verdoppelt diese Rolle auf höchst packende Weise in einer Zeit, in der die mit- und einfühlende Sympathie für die Täter in den Medien in klingende Münze verwandelt wird. Am Schluss von „Edelweißpiraten“ wird den Nazis kein Persilschein ausgestellt; sie werden als sadistische Organe des Terrors gezeigt, die, durchaus im Sinne Götz Alys, auch im Krieg auf ihre (sexuellen oder machtbewussten) Kosten zu kommen versuchten. Wenn der Überlebende Karl am Schluss sein „Nein!“ brüllt, sollte man vielleicht an den Heimkehrer und Dichter Wolfgang Borchert denken, aber auch an den Umgang mit den Edelweißpiraten nach 1945 und an die heroische Ästhetisierung der letzten Stunden im Führerbunker. Dass von Glasow jeden Anflug von Heroismus und Todeskult („Zu leben verstehen wir Deutschen vielleicht nicht, aber zu sterben verstehen wir gut!“; aus: „Morgenrot“, 1933) zugunsten eines eher instinktiven Handelns zum Zwecke des puren Überlebens vermeidet, ist noch das Geringste, was ihm zu danken ist.
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