Fratricide - Brudermord

Drama | Deutschland/Luxemburg/Frankreich 2005 | 95 Minuten

Regie: Yilmaz Arslan

Die Freundschaft zweier junger Kurden wird in Deutschland durch eine feindliche Umwelt und gewalttätige Strukturen auf eine Reihe von Bewährungsproben gestellt, wobei der Druck und die Ausweglosigkeit der Situation derart zunehmen, dass sich bei beiden Todessehnsucht einstellt. In beeindruckenden, mitunter äußerst harten Bildern beschreibt der bedrückende Film ein Leben im kulturellen und ethnischen Niemandsland und zeigt den Zwang seiner Protagonisten, sich einer Gesellschaft anpassen zu müssen, die sie innerlich verachten. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FRATRICIDE
Produktionsland
Deutschland/Luxemburg/Frankreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Yilmaz Arslan Filmprod./Tarantula
Regie
Yilmaz Arslan
Buch
Yilmaz Arslan
Kamera
Jean-François Hensgens
Musik
Evgueni Galperine
Schnitt
André Bendocchi-Alves
Darsteller
Erdal Celik · Xevat Gectan
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Alamode (1:1,85/16:9)
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Diskussion
Konsequent und alles andere als bequem ist Yilmaz Arslans Film „Brudermord“, wenn es darum geht, ernsthaft über die Themen Integration und Parallelgesellschaften nachzudenken. Arslan begleitet eine Gruppe von Menschen, Kurden und Türken, die heimatlos zwischen den Kulturen driften, die vom materiellen Wohlstand des Westens angelockt werden „wie die Motten vom Licht“ (Off-Erzähler Ibo), dort aber keine Chance bekommen und unter erniedrigenden Umständen ihr Dasein fristen. Die Figuren in „Brudermord“, die ihr Leben einem Traum oder auch dem Traum ihrer Eltern verschrieben haben, bewegen sich in einem Niemandsland aus ethischen und kulturellen Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten, weil sie darum bemüht sind, sich an eine Gesellschaft anzupassen, die sie innerlich verachten. Die Kurden flüchten sich in das Pathos, in Europa im Exil zu sein, was offenbar jedes Handeln moralisch legitimiert. „Im Exil macht es keinen Unterschied, wie man den Hinterbliebenen hilft. Ob man totes Fleisch an einer Dönerbude oder lebendiges Fleisch in Hotelzimmern verkauft. Beides bringt Geld ein“, heißt es zu Beginn des Films. Der Stolz auf die bloß noch erinnerte und vielleicht auch verklärte Tradition, die Wurzeln der Familien- und Volksehre, füllt die emotionale Leere der Heimatlosen. „Wenn einem alles genommen wird und man nichts mehr hat, außer der Erinnerung, dann ist es Zeit für eine Neugeburt“, weiß der Off-Erzähler. Vielleicht ist der schonungslos und schmerzhaft ehrliche Film „Brudermord“ Indiz einer solchen „Neugeburt“, gerade, weil Arslan zunächst einmal zeigt, wie es aussieht, wenn „einem alles genommen wird“. „Brudermord“ erzählt die Geschichte des jungen Kurden Azad, der eines Tages eher widerwillig nach Deutschland aufbricht, wo es sein Bruder Semo offenbar zu einigem Reichtum gebracht hat. Azad kommt zunächst in einem Übergangslager unter, wo er den kurdischen Jungen Ibo kennen ernt, dessen Eltern vom türkischen Militär umgebracht wurden. Die beiden freunden sich an und versuchen, das Land, in dem sie nun leben, zu verstehen. In Mannheim werden die Kinder von Sozialarbeitern verwaltet. Ihre Bildungs- und Sprachdefizite versperren ihnen den Zugang zu adäquaten Jobs; Azad und Ibo verdienen ihr Geld schließlich in der schmuddeligen Toilette eines Schnellimbiss. Trostlos ist dieses Leben, doch es kommt noch schlimmer: Eines Abends geraten die beiden mit zwei Türken aneinander, die gerne Gangster mit Kampfhund spielen. Die Situation eskaliert, womit eine unerbittliche Abfolge von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt wird. Arslan zeigt dies mit drastischer Härte; einzelne Szenen brennen sich geradezu ins Gedächtnis ein. Dabei fällt auf, dass jede neue Gewalttat immer auch eine Provokation darstellt, die fast notwendig die nächste Tat nach sich zieht. Die Gewalt zieht so ihre Kreise, trifft Familie, Freunde, schließlich auch das Volk. Arslans Film enthüllt ein Szenario der Aggression, das bereits in Kurdistan mit Übergriffen des türkischen Militärs beginnt, von den Migranten nach Mitteleuropa gebracht wird und sich schließlich gegen die schwächsten Glieder dieser Kette richtet – gegen Frauen und Kinder. Mehrfach versucht Azad, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Andererseits ist er aber einem Freundschaftsbegriff verpflichtet, der zwar Beleidigungen „verzeihen“ kann, Ibos Vergewaltigung durch einen jungen Türken aber nicht. Letztlich stehen alle Männer vor der Option, ihr eigenes Leben zugunsten der Ehre zu opfern. Sie präsentieren sich selbst als opferbereit und klagen so die Solidarität der Familie ein. Auf dem kurdischen Newroz-Fest sucht Azad bei seinen Landsleuten Unterstützung. Doch auch hier gilt nur ein archaisches Denken: „Was nützen Zähne, die nicht beißen?“, wird ihm vorgehalten. Arslan, der seinen Film Pier Paolo Pasolini gewidmet hat, macht mit seinem zornigen „Brudermord“ klar, dass es ihm nicht um die Beschreibung eines Einzelfalls geht. Zwar konzentriert sich die Spirale der Gewalt auf die Jüngeren, doch am Beispiel der türkischen Eltern zeigt der Film, dass die Überforderung durch die Verhältnisse sämtliche Personen und Generationen trifft. „Fratricide – Brudermord“ ist eine längere Exposition vorangestellt, die den Film lehrstückhaft vorwegnimmt und den Schmerz der Beteiligten vor Augen führt: Jede Figur steht für eine andere Facette des mörderischen Treibens. Nur Kinder und Frauen verkörpern ein anders gearteten Handeln, da sie zumindest für Momente über die (utopische) Gabe solidarischen Mitleids verfügen. In einer der schönsten Szenen träumt Ibo davon, dass die an die Schultafel gemalten Tiere lebendig werden, und erlaubt sich einen Augenblick kindlicher Ausgelassenheit. Hier wird „Brudermord“ zum Animationsfilm, an dessen Ende freilich die Särge der Eltern stehen. Als Ibo aus seinem Tagtraum erwacht, wartet hinter einer Glasscheibe bereits sein Vergewaltiger. Am Ende reagieren Ibo und Azad auf ihre aussichtslose Situation mit Todessehnsucht; erschöpft wollen sie ins Paradies flüchten, wo die anderen Toten sie erwarten. Doch allein Azad ist diese Flucht „vergönnt“.
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