37 Uses For A Dead Sheep

- | Großbritannien 2006 | 88 Minuten

Regie: Ben Hopkins

Intelligent-unterhaltsame Mischung aus Dokumentarfilm, ethnografischer Studie und soziokultureller Reflexion über das Volk der Pamir-Kirgisen, seine in den letzten hundert Jahren gleich mehrfach bedrohte Existenz sowie seine erzwungene Odyssee, die im Pamir begann und in einem kleinen Dorf im Osten der Türkei endete. Aus vielfältigen stilistischen Mitteln, Anspielungen, Zitaten und Verweisen auf die Geschichte des dokumentarischen und ethnografischen Films speist sich das ebenso mitreißende wie berührende Porträt eines "vergessenen" Volkes, dem sich der Film verantwortungsbewusst, charmant und humorvoll zugleich nähert. (O.m.d.U.; bei der "Berlinale" 2006 mit dem "Caligari-Filmpreis" ausgezeichnet) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
37 USES FOR A DEAD SHEEP
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Tigerlily Films
Regie
Ben Hopkins
Buch
Ben Hopkins
Kamera
Gary Clarke
Musik
Paul Lewis
Schnitt
Marco van Welzen
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Dies sei, so erklärt Regisseur Ben Hopkins gleich zu Beginn aus dem Off, kein Film „über“ das kleine Volk der Pamir-Kirgisen; es sei vielmehr ein Film „mit“ ihnen – ein Film zudem über Heimat, Exil und Zugehörigkeitsgefühl. Was der 1969 in Hongkong geborene Brite damit ebenso pointiert wie lakonisch auf den Punkt bringt, funktioniert als programmatisches Entree für einen außergewöhnlichen filmischen Prospekt, den man als Dokumentarfilm, als ethnografische Studie oder auch als soziokulturelle und politische Reflexion etikettieren könnte, ohne damit Hopkins’ ganzer Aufmerksamkeit und Neugier, seinem humanistischen Engagement und vor allem auch seinem ganz spezifischen Charme und Esprit annähernd Ausdruck gegeben zu haben. Eigentlich ist das, was er unter Einsatz vielfältiger stilistischer Mittel, Anspielungen, Zitate und Verweise auf die Geschichte des dokumentarischen und ethnografischen Films unterhaltsam, lehrreich sowie einfühl- und aufmerksam komponiert, die Quadratur des Kreises: nämlich binnen üblicher Kinofilmlänge facettenreich die Geschichte eines ganzen Volkes aufzubereiten, die Umstände seiner innerhalb von hundert Jahren gleich mehrfach bedrohten Existenz sowie seiner erzwungenen Odyssee, die im Pamir begann, quasi auf dem „Dach der Welt“, das sich Kirgisien, China, Afghanistan und Tadschikistan geografisch teilen. Während der russischen Revolution widersetzten sich die Pamir-Kirgisen der Eingliederung ins neue Sowjetsystem, was zum jahrelangen Kampf gegen die Rote Armee führte, der erst mit dem Rückzug der Kirgisen in den chinesischen Teil des Pamirs endete. Dort kam man vom Regen in die Traufe, und nach Maos Machtergreifung floh das Volk erneut vor dem kommunistischen Regime – um in der unwirtlichen Pamir-Region Afghanistans zu stranden, wo es den kargen Verhältnissen 30 Jahre lang eine Existenzgrundlage (vor allem in der Schafzucht) abtrotzte, bevor die sowjetische Invasion den Stamm erneut zur Flucht zwang, diesmal nach Pakistan. Durch ein würdeloses Leben in Flüchtlingslagern, geschlagen durch ein extremes Klima und durch völlig unbekannte Krankheiten in seiner Existenz bedroht, suchte der Führer Khan Rahman Qul eine neue Heimat für sein turkisches Volk und entschied sich für eine Zukunft im Osten der Türkei. Via Luftbrücke wurden im Jahr 1982 etwa 2000 Menschen ausgeflogen; sie bezogen das Dorf Ulupamir, wo sie bis heute leben – fernab der Ursprünge, nunmehr bedroht vom „natürlichen“ sozialen (Zeiten-) Wandel: Die jüngere Generation lebt immer weniger die traditionelle Kultur, und es steht zu befürchten, dass in 30 Jahren Ulupamir ausgestorben sein könnte – und mit ihm das Volk der Pamir-Kirgisen. So ereignisreich wie die wechselvolle Geschichte der Pamir-Kirgisen ist auch der filmische Exkurs: Hopkins ist kein dröger Archivar, der die Fakten lieblos abhakt, sondern ein mitdenkender und mitfühlender Kino-Anthropologe, der sich der Differenz zwischen Wirklichkeit und filmischer Wirklichkeit stets bewusst ist und dieses Bewusstsein dem Zuschauer geradezu leidenschaftlich vermitteln möchte. Wenn er Episoden aus der Geschichte der Pamir-Kirgisen „nachstellt“, dann tut er dies beispielsweise in ästhetisch stilecht der Filmgeschichte nachempfundenen Zitaten. Da saust dann wie im antiquierten Erdkundeunterricht eine rote Linie über eine Landkarte, um den Weg der Kirgisen plakativ zu illustrieren; da ruckelt das stumme Filmbild mal in der Tradition des frühen ethnografischen (Stumm-)Films, oder es wird detailgenau das pathetische Bildergewitter des sowjetischen Revolutionskinos nachgestellt – womit Hopkins spielerisch und mit grimmigem Humor stets auch auf den Missbrauch hindeutet, der den beobachteten Völkern oft genug mit Filmaufnahmen widerfahren ist, wenn die Abbildung zu einem Akt der „feindlichen Aneignung“ wurde. Die Pamir-Kirgisen indes müssen nicht bedauern, sich vertrauensvoll auf Hopkins eingelassen zu haben: Geradezu vorbildlich pflegt er ein Verhältnis des permanenten Austauschs zwischen sich als dem „Mann mit der Kamera“ und den Dargestellten, und diese danken es ihm mit Einblicken in ihre Geschichte, ihre Mentalität sowie ihre ungebrochen lebensfrohe, „natürliche“ Sicht der Dinge. So speist sich dieses mitreißende und berührende Porträt eines „vergessenen“ Volkes unterm Strich zwar auch aus zahlreichen Fakten, vor allem aber aus der vorbehaltlosen Hinwendung und Offenheit, mit der Hopkins ihm begegnet: alten wie jungen Menschen, Männern wie Frauen, ihrer Mentalität, ihrer religiösen wie ethnischen Verwurzelung, ihrer Lebensfreude und ihrem ansteckenden Humor. In der Summe spiegelt Hopkins sehr präzise die Identität eines Volkes, das an der Schwelle zur Moderne steht – wobei man sich gerne dem (utopischen?) Wunsch hingibt, dass den Pamir-Kirigisen beides erhalten bleiben möge: die Tradition der Alten, die so mitreißend von den „37 Verwertungen eines toten Schafes“ erzählen können, wie auch die Hoffnung der Jungen auf ein selbstbestimmtes, unbedrohtes Leben innerhalb einer multikulturellen und toleranten Welt.
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