Die andere Seite des Mondes

- | Kanada 2003 | 105 Minuten

Regie: Robert Lepage

Ein Mann mittleren Alters verdient sein Geld mit einem tristen Job im Telefon-Marketing und zankt sich dabei stets mit seinem erfolgreicheren Bruder. Er träumt davon, seinem freudlosen Leben zu entkommen, wobei die Raumfahrt der Fluchtpunkt seiner Fantasien ist. Regisseur Robert Lepage entwirft das thematisch wie formal vielgestaltige Porträt eines vom Leben enttäuschten Philosophen, dessen existenziellen Fragen er sich ernsthaft und zugleich voller Sinn für die Absurditäten des Seins widmet. Eine philosophierende Komödie, die einen reizvollen Bewusstseinsstrom produziert, dem man sich gern überlässt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA FACE CACHÉE DE LA LUNE
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Media Principia/FCL Films
Regie
Robert Lepage
Buch
Robert Lepage
Kamera
Ronald Plante
Musik
Benoît Jutras
Schnitt
Philippe Gagnon
Darsteller
Robert Lepage (Philippe/André) · Anne-Marie Cadieux (Mutter) · Marco Poulin (Carl) · Céline Bonnier (Nathalie) · Gregory Hlady (Übersetzer)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
flaxfilm (16:9, 1.78:1, DD2.0 frz./dt.)
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Diskussion
Es ist alles eine Frage der Perspektive und/oder des Kontextes. Wenn man wie der franko-kanadische Filmemacher Robert Lepage (s)einen Film mit einem dokumentarischen Prolog über die erdabgewandte Seite des Mondes eröffnet, dann kommt fast reflexhaft eine Spiegelmetaphorik ins Spiel. Glaubten die Menschen doch lange, dass der Mond ein Spiegel der Erde sei. Die ersten Blicke durchs Teleskop zerstörten diese Vorstellung, doch viel später zeigten Bilder sowjetischer Sonden, dass der Mond noch eine andere, „entstellte“, vom Leben im All gezeichnete Seite hat. Dennoch: Der Mond mit seiner Schwerelosigkeit entwickelte sich nicht zuletzt in diesem Sinne trotz und dank des technischen Fortschritts der Raumfahrt zum utopischen Fluchtpunkt derjenigen, die auf Erden ein schweres Leben führen müssen. Der 40-jährige Dauerpromovent Philippe ist so ein Kandidat. Seit jeher sind die bemannte Raumfahrt und die damit einhergehenden Philosophien das prägende Steckenpferd des Träumers, der im „richtigen Leben“ erhebliche Synchronisierungsprobleme hat. Gerade ist seine Mutter gestorben, und mit seinem in der vergleichsweise oberflächlich-materialistischen Fernsehwelt erfolgreichen Bruder André, der als Wettervorhersager die entgegengesetzte Perspektive auf den blauen Planeten bevorzugt, ist er heillos zerstritten. So verzagt und erfolglos Philippe erscheinen mag: wenn es darum geht, sich kosmischen Fragestellungen mit adäquater Empathie zu stellen, läuft er zu Hochform auf. Seine wichtigsten Alltagsgespräche regelt er vom Arbeitsplatz in einem Großraumbüro für Telefonmarketing aus, was ihm noch reichlich Ärger eintragen wird. Robert Lepage („Confessionnal“, fd 31877) gibt als Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller beider Brüder einen „total filmmaker“ ab. Auf erstaunliche Weise gelingt es ihm dabei, die unterschiedlichen Diskurse und Perspektiven auf den Alltag, das Leben und die menschliche Existenz im Wortsinne flüssig aufeinander zu beziehen, ohne auf ein relativierendes Augenzwinkern im Hinblick auf sein eigenes Erzählen zu verzichten. Insofern ist „Die andere Seite des Mondes“ eine philosophierende Komödie, die immer wieder zwischen den erkenntnistheoretischen Optionen der Induktion bzw. der Deduktion hin- und herspringt. Dass dies gelingt, ist auch ein Meisterstück der Montage, die sich weder um die Vermittlung der Zeitebenen noch um die Vermittlung von Realität und Traum schert, sondern „einfach“ einen „Stream of Consciousness“ produziert, dem man sich, wie einst bei Chris Marker, getrost überlassen kann. So „erinnert“ der traurige Blick des Protagonisten Philippe in die verglaste Trommel einer Waschmaschine – von innen aufgenommen – an den eines Astronauten, der gerade den Kontakt zum Mutterschiff verloren hat. So, wie der Film problemlos die triste Gegenwart Philippes mit dessen Fluchtfantasien vernäht und durch Ausflüge in die ebenfalls triste Jugend des Protagonisten sogar noch psychologisch unterfüttert, beziehen sich auch die Dialoge hintersinnig aufeinander. Da wird zustimmend die progressive Maxime des sowjetischen Wissenschaftlers und Utopisten Konstantin Tsiolkovskij angeführt, die lautet: „Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch welcher Mensch möchte schon ewig in seiner Wiege liegen?“ Wenig später wird Philippe mit den Worten, „Es ist nicht gesund, dort zu bleiben, wo man aufgewachsen ist“, daran erinnert, dass er noch immer in der elterlichen Wohnung lebt. Was hat die Utopie der bemannten Raumfahrt mit den realen Existenzbedingungen eines in einem Wasserglas schwimmenden Goldfischs zu tun? Gibt es außerirdische Existenzen, die sich vergleichbare Fragen stellen? Sollten die Menschen nicht ungeschönte Botschaften über ihr Alltagsleben ins All senden, statt auf Signale Außerirdischer zu warten? Ist das menschliche Streben nach Selbsterkenntnis, wie es Philippe vorführt, nicht reiner Narzissmus? Lässt sich das unendlich Banale der menschlichen Existenz mit der unendlich wichtigen Frage nach dem Platz des Menschen im Universum vermitteln? Lepage widmet sich all diesen Fragen durchaus ernsthaft und doch wieder voller Sinn für die Absurditäten des Seins, wenn das Streben nach Erkenntnis immer wieder durch die Erfahrung der Endlichkeit konterkariert wird. Die Mutter der beiden Brüder hatte viele schöne Schuhe, weil sie so stolz auf ihre Beine war. Leider waren die Ärzte gezwungen, ihr aufgrund einer Nierenkrankheit zunächst die Zehen und später auch die Beine zu amputieren. Die Schuhe aber sind geblieben. „Bitterkeit“, weiß Philippe, „ist das Haupthindernis der Versöhnung.“ Die im kosmischen Wettlauf unterlegenen Sowjets hätten es schließlich vorgemacht, als sie den amerikanischen Siegern die Hand reichten. Allein, was hilft ein solches Beispiel, wenn der eigene Bruder ein ausgemachter Widerling ist? Hatte man uns nicht erzählt, dass den Menschen ihr utopischer Impuls abhanden gekommen ist? Lepages Film ist vielleicht nicht der filmisch geführte Gegenbeweis, aber ein luzides Beispiel dafür, dass es sich lohnt, weiter von der Überwindung der Schwerkraft zu träumen.
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