Jeder schweigt von etwas anderem

Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 72 Minuten

Regie: Marc Bauder

Dokumentarfilm über drei Familien, die zu DDR-Zeiten in die Mühlen der Stasi gerieten und darüber zerbrachen. Was die unterschiedlichen Schicksale eint, ist die auffällige Schwierigkeit, miteinander über die Vergangenheit zu sprechen, obwohl viele familiäre Konflikte direkt daraus entspringen. Exemplarische Bestandsaufnahme, die in Einzelinterviews das Maß der kollektiven Verdrängung intensiv auslotet, freilich über sensible Einblicke in beschädigte Biografien hinaus kein Gesamtbild gewinnt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
bauderfilm/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Marc Bauder · Dörte Franke
Buch
Marc Bauder · Dörte Franke
Kamera
Börres Weiffenbach
Musik
Bernhard Fleischmann
Schnitt
Rune Schweitzer
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
„Alle Probleme der Vergangenheit werden in der Zukunft gelöst. So isses halt, die Kinder laufen mit unseren Sachen umher, und wir können ihnen eigentlich gar nicht dabei helfen, sie zu lösen.“ So spricht Anne Gollin, eine der Protagonisten, über das Sujet von „Jeder schweigt von etwas anderem“ und zugleich über das Problem, dieses zur Anschauung zu bringen: das Sichtbare und das Sagbare. Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichten dreier Familien, die in die Mühlen des Stasi-Systems gerieten. Die Eltern, gerade mal in den Zwanzigern, wurden als „Staatsfeinde“ eingesperrt und später vom Westen freigekauft; ihre Kinder, teils noch in der DDR geboren und aufgewachsen, gerieten zum Spielball der Verhältnisse. Mit der Wende setzten für die Familien zwiespältige Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit ein – nicht immer freiwillig, sondern durch den Gang der Geschichte aufoktroyiert. Die Stasi-Akten scheinen zwar neues Wissen über damalige Ereignisse zu erschließen, doch überwiegt das Entsetzen, dass die Vergangenheit nicht rational zu fassen ist und deshalb auch nicht einfach hinter sich gelassen werden kann. Die bitterste Hilflosigkeit artikuliert sich in der Konfrontation mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. In den Häftlingen von einst lebt die Vergangenheit weiter und bestimmt noch immer ihre Wahrnehmung. Der Film versucht, diese sich ineinander schiebenden Zeitebenen anschaulich zu machen. Die längst groß gewordenen Kinder spielen dabei eine zentrale Rolle, da die innerfamiliären Auseinandersetzungen unter einer gebrochenen Kommunikation leiden. Der Film will eine Antwort auf das Schweigen finden, das in der komplexen zeitlichen Dimension der Geschehnisse und Eindrücke begründet liegt. Insofern erzählt die Recherche der beiden Filmemacher drei Familiengeschichten über scheinbare Interview-Situationen, wobei allerdings die konkreten Fragen meist ausgespart bleiben, sodass der Zuschauer zum Adressaten gerät. Der Film arbeitet nicht mit Archivmaterial, sondern geht von den Erinnerungsorten und -gegenständen aus, die den Protagonisten selbst zur Verfügung stehen – Wiederbegehung von Schauplätzen von einst und vor allem persönliche Fotos –, Erinnerungsbilder, die aber nur unzureichend die Aktualität des Erlebten illustrieren können. Es gelingt dem Film, die unartikulierbaren Auswirkungen der Vergangenheit spürbar zu machen. Die Filmemacher lassen ihre Recherche über emotionale Folter mit Anne Gollin beginnen, die heute Führungen durch Erich Mielkes Büro leitet und diese Begehungen immer wieder mit ihrem eigenen Schicksal vor einer sichtbaren Schar von Zuhörern anreichert – was fast spiegelbildlich die Verfahrensweise des gesamten Films andeutet. Die Zwischentafel „Utz und seine Töchter“ leitet die Geschichte von Utz Rachowski ein, der wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet wurde. Hier erweist sich der Film als besonders sensibel, indem er die emotionalen Ausbrüche der Tochter herausschneidet und nur die erzählenden Spuren ihrer Betroffenheit in Form vorgelesener Aufsätze kenntlich macht. Das Medium der Literatur ist für die Protagonisten und ihre Kommunikation zentral. Sowohl Utz als auch Matthias Storck, der Vater der dritten Familie, haben Bücher und Gedichte geschrieben. Wie widerstreitend die Kinder die Geschichten ihrer Eltern lesen, beschreibt Storcks Tochter. Ihre Fantasie revoltiert gegen die historische Eingebundenheit ihres Vaters. Filme wie „Good Bye, Lenin!“ (fd 35 817), so die Tochter, hätten doch ein Bild der DDR etabliert, in dem der Unrechtsstaat relativiert erscheine. Die Leistung von „Jeder schweigt von etwas anderem“ indes ist es, dass hier das Erinnern und Erzählen selbst zum Problem gemacht wird: Geschichte ist vor allem eine Frage der Art und Weise des Erzählens, des Verhältnisses von Erzähler und Zuhörer oder Zuschauer. Indem die Zeitebenen über Emotionen ineinander verwoben werden, hebt der Film dies besonders hervor. Durch seine langen horizontalen und vertikalen Kamerafahrten erinnert er sogar an Resnais’ „Nacht und Nebel“ (fd 5548) oder die Anfangssequenz von „Hiroshima mon amour“ (fd 9095), wo sich der Begriff des Erinnerungsbildes und das Problem der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart markant artikulierte. Auch wenn Franke und Bauder in der Ausdehnung ihrer Interview-Position etwas zu konventionell in der Form bleiben und mit einer letzten Schrifttafel, die auf die Gesamtzahl der politischen Gefangenen und ihre Schicksale aufmerksam macht, ins Konventionelle driften, vermag das die filmische Gesamtwirkung nur geringfügig zu schmälern.
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