Zeit des Abschieds (2006)

Dokumentarfilm | Schweiz 2006 | 63 Minuten

Regie: Mehdi Sahebi

Minutiös begleitet der Dokumentarfilm einen AIDS- und Krebspatienten während dessen letzten sieben Lebensmonaten und zeichnet schließlich auch den Zeitpunkt des Todes auf. Dabei lotet er in allen Belangen Grenzen sowohl des filmisch Machbaren als auch des Zumutbaren aus, findet aber mit großer Sensibilität das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz und bewahrt stets die Würde des Protagonisten. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
ZEIT DES ABSCHIEDS
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Cineworx/DRS
Regie
Mehdi Sahebi
Buch
Mehdi Sahebi
Kamera
Mehdi Sahebi
Musik
Aya Domenig
Schnitt
Pascal Sahebi
Länge
63 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Giuseppe Tommasi, ein italienischstämmiger Schweizer, nimmt Abschied. Sein Abschiedsbrief vor der Reise, die er antreten muss, richtet sich nicht an die Familie oder an Freunde, sondern an die ihn behandelnden Ärzte, die ihn während der ihm bleibenden sieben Monate Lebenszeit betreuen werden. Der Ex-Junkie Tommasi, erkrankt an AIDS und unter Krebs leidend, verliest seine Patientenverfügung; eine Auflistung seiner letzten Wünsche und jener Krebs- und Schmerzmittel, Barbiturate und Morphine, die ihm verabreicht werden sollen. Dabei blickt er fast frohen Mutes in die Kamera. Alles scheint geregelt. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt könnte man das Kino verlassen und sich dem eigenen Leben zuwenden, doch man ist gut beraten, Steh- und Durchhaltevermögen zu zeigen. Mehdi Sahebis Dokumentarfilm konfrontiert auf ungewohnt direkte Art mit dem Sterben und zeigt zugleich einen Menschen, der die ihm verbleibende Zeit nutzen will, um mit sich, seinem Leben und seinen Lieben ins Reine zu kommen. Dabei zeigt er einen mitunter durchaus fröhlichen Menschen, der bei klarem Bewusstsein seinen Krankheitsstand diagnostiziert und der längst seine immunstärkenden AIDS-Arzneien abgesetzt hat, um dem Krebs nicht unnötige Nahrung zu liefern. Immer wieder erzählt er von seiner „Tagesform“ und seinen Plänen für die nächsten Wochen. Dabei spielt die Aussöhnung mit seinen Teenager-Kindern, die er oft vernachlässigte und enttäuschte, die entscheidende Rolle. Scheinbar kein Problem bei der Tochter, die sich dem sterbenden Vater vorbehaltlos annähert; der Sohn hingegen bleibt auf Distanz, sucht auch im Vier-Augen-Gespräch nach Ablenkung, weiß seine widerstrebenden Gefühle nicht zu kanalisieren. Dem nicht vorbehaltlos geliebten Vater einen Gefallen tun oder den eigenen Verletzungen stummen Ausdruck verleihen? Spätestens in dieser Szene macht der Film ein zweites Mal hilflos, indem er den sympathischen, eloquenten Protagonisten noch einmal in Frage stellt, als dieser den Sohn verzeihend aus seinem Sterbezimmer entlässt: Gibt es so etwas wie eine große Show am Ende des Lebens? Tommasi, dessen schmerzverzerrtes Gesicht während der Bestrahlung immer wieder mit seiner Krankheit konfrontiert, der von einem Moment auf den anderen von Euphorie in Wehleidigkeit verfallen kann und zuletzt kaum noch zu einer Bewegung fähig ist, spielt nicht, sondern erlebt seine Situation. Die Kamera ist immer dabei, konzentriert sich (bis auf wenige Filmminuten aus der Vergangenheit des Kranken) auf das Gesicht und den deformierten Oberkörper, der durch seine häufige Entblößung freilich auch ein wenig ausgestellt wirkt – das Bild eines Schmerzensmannes, der seine Zeit nutzen will. Dann tut Tommasi seine letzten Atemzüge, die Kamera ist auch hier dabei, beobachtet die beiden Krankenschwestern, die ihm zur Seite stehen. Als sein Atem still steht, weint eine der beiden. Darf man dies zeigen? Darf man solche Bilder ins Kino bringen? Gewiss nicht in jedem Fall, gewiss nicht um der Sensation willen, denn die „Zeit des Abschieds“ überschreitet jede Grenze. Und doch bleibt hinter dem schockierenden Filmerlebnis der Eindruck, dass in jeder Sekunde die Würde des Sterbenden gewahrt bleibt, dass er das Filmteam als eine Art Tagebuch-Redaktion nutzt, um seine Grenzerfahrungen der Nachwelt zu hinterlassen. So gesehen, trägt der spirituelle Film zur nachhaltigen Auseinandersetzung mit Sterben und Tod bei, wobei er niemanden unberührt lassen dürfte und sowohl für Irritationen als auch für Erhellung sorgt. Angemerkt sei, dass der in der anfangs verlesenen Patientenverfügung zusammengestellte Medikamenten-Cocktail eine dezidierte Anleitung zur passiven Sterbehilfe darstellt, wobei in der Schweiz auch deren aktive Form unter Wahrung von Vorgaben praktiziert werden darf. Diese Art passiver Sterbehilfe wird auch in Deutschland praktiziert, obwohl das kaum ein Mediziner offen zugeben dürfte. Am Ende wird Tommasis Asche vom Sohn, der für einen letzten Besuch im Krankenhaus einen Tag zu spät gekommen ist, im Wasser eines ruhig dahinfließenden Flüsschens verstreut – das versöhnliche Bild einer (zu) späten Aussöhnung.
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