Spuren im Eis - Der Preis des Pols

Dokumentarfilm | Dänemark/Schweden 2006 | 79 Minuten

Regie: Staffan Julén

Dokumentarfilm über den amerikanischen Polarforscher Robert E. Peary (1858-1920), der als Entdecker des geografischen Nordpols gilt. Sein eigentliches Interesse gilt jedoch dem Inuit-Jungen Minik, der 1897 mit fünf weiteren Mitgliedern seiner Sippe nach New York verschleppt wurde, als Einziger überlebte und im Sinne der „weißen Rasse“ sozialisiert und seinem Volk entfremdet wurde. Über das beklagenswerte Einzelschicksal hinaus wirft der ebenso spannende wie informative Film ein beredtes Schlaglicht auf eine koloniale Wissenschaft, die sich die Unterordnung der Welt unter dem Deckmantel einer recht skrupellosen Forschung zum Ziel setzte. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE PRIZE OF THE POLE
Produktionsland
Dänemark/Schweden
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Eden Film/Haslund Film/Nimbus Film Prod.
Regie
Staffan Julén
Buch
Staffan Julén
Kamera
Torben Forsberg · Camilla Hjelm
Musik
Frithjof Toksvig
Schnitt
Yva Fabricius · Staffan Julén · Clas Lindberg
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Da rennt ein Mensch sein halbes Leben gegen die Unwägbarkeiten des ewigen Eises an, nur um am 6. April 1909 in sein Tagebuch schreiben zu können: „The Pole is Mine. Made good at last.“ Dabei ist die Tatsache, dass der US-amerikanische Polarforscher Robert E. Peary wirklich der Erstentdecker des geografischen Nordpols war, noch nicht einmal gesichert. Das interessiert den Dokumentarfilm von Staffan Julén aber auch recht wenig; er ist vielmehr am forschungshistorischen Umfeld des schnauzbärtigen Entdeckers interessiert, an ethnologischen Studien, die die Vorherrschaft der „weißen Rasse“ untermauern sollen, an einem wissenschaftlichen Sendungsbewusstsein, das, ganz auf der Höhe der damaligen Zeit, im Dienst der kolonialen Aufteilung der Erde steht. Anders ist kaum zu erklären, dass Peary 1897 sechs Eskimos von Grönland nach New York schleppte, um sie gegen wenige Cent als Jahrmarktsattraktion auszustellen und dem dortigen Museum of Natural History zu Studienzwecken zur Verfügung zu stellen. Innerhalb eines halben Jahres sterben fünf der sechs Inuit – diese Eigenbezeichnung der grönländischen Ureinwohner, die schlicht „Mensch“ bedeutet, wurde von den Forschern der damaligen Zeit mit erhellender Ignoranz aus dem wissenschaftlichen Bewusstsein verdrängt. Minik, ein kleiner Junge und Überlebender der Expedition, wird von William Wallace, dem Direktor des Museums, „adoptiert“ und sozialisiert; letztlich auch ein Versuchsobjekt, das am lebendigen Beispiel den Beweis erbringen soll, dass der „edle Wilde“ für die Errungenschaften der so genannten Zivilisation gewonnen werden kann. Ein Experiment, das nur bedingt gelingt. Minik kann sich zwar in der amerikanischen Gesellschaft behaupten, ihre Lebensziele und Ideologie antizipieren, bleibt aber fremd. Als er das Skelett seines Vaters, wahrscheinlich vom Ziehvater präpariert, in dessen Museum ausgestellt sieht, reift der Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Peary, der zu dieser Zeit eine neuerliche Grönland-Expedition ausrichtet, hat vorgeblich keinen Platz auf seinem Forschungsschiff; erst mit Hilfe von Josefine, der Frau des Entdeckers, gelingt die Rückkehr. Doch Minik hat mittlerweile die Sprache seines Volks und dessen kulturelle Sitten verlernt. Er kehrt in den USA zurück, wo der eloquente „Eskimo“ im Alter von 31 Jahren stirbt. Sein „Entdecker“, Robert Peary, der sich nach der Verschleppung nie mehr um sein „Findelkind“ gekümmert hat, stirbt am 20. Februar 1920 als vermeintlicher Entdecker des Nordpols. Der Entdecker, der sich die Nächte im ewigen Eis mit einer Eskimo-Frau verkürzt hat, hinterlässt einige außereheliche Kinder, deren Nachkommen mittlerweile zu einer stattlichen Sippe herangewachsen sind. Die aberwitzige Geschichte erhellt ein Kapitel (Wissenschafts-) Kolonialismus des beginnenden 20. Jahrhunderts und belegt zugleich einen seltsamen Irrwitz innerhalb des Dokumentarfilmschaffens: Axel Engstfeld zeichnete bereits im Jahr 2005 den Leidensweg des Inuit-Jungen nach („Minik“, fd 37 440) und kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Staffan Julén; nur sind dessen Recherche-Mittel anders, und das macht „Spuren im Eis“ trotz der Duplizität der rekonstruierten Historie zum Erlebnis. Während Engstfeld mit nachgestellten Szenen Miniks Martyrium im Sinne einer vermeintlich aufgeklärten Forschung darzustellen versuchte, gibt sich Juléns Film durch und durch dokumentarisch, montiert Fotos mit authentischem Filmmaterial, nutzt zeitgenössische Presseausschnitte und verklammert alles durch die Zeitreise eines Inuit-Urenkels von Peary, der sich recht stoisch, stets mit Hut bekleidet, auf die Spuren seines Urgroßvaters begibt. Lediglich in diesem „inszenatorischen“ Ansatz unterscheiden sich die beiden Filme, die ansonsten alle Mittel des dokumentarischen Genres nutzen, um ein Bild der Ereignisse zu zeichnen, das als Fazit einem der „Herrenrasse“ verpflichteten Forschungsansatz auf die Spur kommt, der u.a. mit seinen Schädelvermessungen durchaus nationalsozialistisches Gedankengut transportiert und der Idee der Herrenrasse zuarbeitet. Interessant ist „Spuren im Eis“ vor allem, weil er die Vielfalt dokumentarischer Filmarbeit offenbart und belegt, wie Fakten durch das Mittel der filmischen Inszenierung erhärtet werden können (und dürfen). Wobei mit der Verwendung unterschiedlicher Filmformate eine eigene Authentizität geschaffen werden soll (die sich indes wohl nur wenigen erschließen dürfte); doch das klassische Filmformat 4:3, das Julén bei alten Dokumentaraufnahmen verwendet, signalisiert eher Erinnerung, als dass die Proportionen wirklich eingehalten würden.
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