Kurz davor ist es passiert

- | Österreich 2006 | 72 Minuten

Regie: Anja Salomonowitz

In einer vielschichtig und facettenreich strukturierten Mischung aus dokumentarischen und konstruierten filmischen Szenen verbindet der Film Berichte von Betroffenen über Frauenhandel und illegale Migration mit den Lebenswelten von fünf Personen, die diese Texte in ihrem Alltag vortragen. Das doppelbödige Spiel mit Realität und Realitätswahrnehmung verdichtet sich zur spannend-erhellenden Analyse gesellschaftlicher Missstände. Dabei verwischt der Film die Grenzen zwischen den sozialen Schichten der Protagonisten und animiert den Betrachter, Zusammenhänge herzustellen und eine eigene Position einzunehmen. Der ebenso spannende wie beklemmende und aufklärende Blick bewirkt Neugier, die inszenatorische Konfrontation mit authentischen Schicksalen berührt nachhaltig. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
KURZ DAVOR IST ES PASSIERT
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Amour Fou Filmprod.
Regie
Anja Salomonowitz
Buch
Anja Salomonowitz
Kamera
Jo Molitoris
Musik
Florian Richling · David Salomonowicz
Schnitt
Frédéric Fichfet · Gregor Wille · Anja Salomonowitz
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Fünf Menschen in ihrem Alltag: Ein Zöllner an einer unwirtlichen Grenzstation im Niemandsland zwischen Österreich und einem osteuropäischen Land. Eine ältere Frau in dörflicher Provinz zwischen Gesangsverein und Verkaufsgesprächen, bei denen sie ihren Bekannten Vitamine in Großpackungen anpreist. Ein Kellner in einem Bordell, der akribisch Ordnung schafft, bevor die Kunden kommen, Gläser spült, Schmutzwäsche entsorgt, die Licht- und Musikanlage checkt. In einer vornehmen Villa geht eine Diplomatin ihren repräsentativen und administrativen Aufgaben nach; als Honorarkonsulin vertritt sie Kamerun, hat aber auch Verpflichtungen in der „besseren Gesellschaft“. Derweil fährt ein Taxichauffeur durch die Nacht und löst in den langen Wartephasen Kreuzworträtsel. Nahezu nichts scheint diese fünf Personen zu verbinden – außer vielleicht eine gewisse Einsamkeit, eine leichte Melancholie, ein nur partiell geglücktes Einrichten im Alleinsein. Doch dieser erste vage Eindruck ist bereits Interpretation und womöglich trügerisch; er resultiert aus dem intuitiven Bedürfnis des Betrachters, die (vermeintlich) dokumentarischen Bilder mit Bedeutung und Erklärung zu füllen. Doch das funktioniert nicht, jedenfalls nicht ohne Irritation. Die Regisseurin Anja Salomonowitz gewährt keine Sicherheiten und führt beharrlich auf erzählerisch ungewohntes Terrain, wobei sich die auf den ersten Blick dokumentarischen Szenen als kalkuliert, also konstruiert entpuppen, während sich das, was als Alltag anmutet, als filmisch verfremdet erweist. Ein fesselndes Prinzip filmischer Konstruktion und Dekonstruktion: Der Zöllner enthebt sich unerwartet seinem eigenen Alltag, blickt in die Kamera und spricht hinein; die Dorfbewohnerin singt während der Chorprobe nicht mehr weiter, wendet sich ebenso an die Kamera und erzählt; die Diplomatin kümmert sich nicht länger um einen auswärtigen Gast, sondern wendet sich übers Kameraauge direkt an den Zuschauer. So begreift man, angeregt-verwirrt und fasziniert zugleich, dass die fünf Menschen, während sie im Rahmen ihrer alltäglichen Routine agieren, von etwas gänzlich Anderem sprechen: Sie fungieren quasi als Schauspieler, rezitieren, tragen die Texte anderer Menschen vor, und zwar von Frauen, deren tragische Schicksale auf diesem Weg zur Kenntnis gebracht werden. Das, was die fünf „Darsteller“ in leicht monotoner Stimme aufsagen, basiert auf ernüchternden, verstörenden und beklemmenden Gesprächsaufzeichnungen zum Thema Frauenhandel, Migration, Fremdenrecht und ist das Resultat langwieriger Recherchen der Regisseurin. Überwiegend wörtlich aus Interviews und protokollarischen Berichten betroffener Frauen übernommen, aufbereitet und verdichtet, vermitteln sich exemplarische Geschichten um Verletzungen, Unterdrückung und Erniedrigung, wobei es sowohl um sexuelle Ausbeutung, erzwungene Prostitution und damit einhergehende Formen der Gewalt geht als auch um „subtilere“ Formen der Repression: Ein österreichischer Ehemann hält sich seine osteuropäische Frau als Leibeigene und Gefangene im Haus, wobei ihr die rechtliche Situation keine Handhabe zur Gegenwehr belässt; in einem Diplomatenhaushalt wird eine Putzhilfe bis zur Erschöpfung zur Arbeit gezwungen und nach ihrem physischen Zusammenbruch eiskalt abserviert. Der Zöllner rezitiert einmal: „Ich trenne mich innerlich von dem, was ich mache.“ Einer von vielen Sätzen, die so nüchtern daherkommen und doch so beredt sind und von tiefen Verletzungen zeugen, vom Verlust jeglicher Würde, von Lüge und falschen Versprechungen, von der verbrecherischen Verweigerung von Grundrechten, Respekt und Menschlichkeit. Anja Salomonowitz betreibt eine filmisch höchst facettenreiche Gratwanderung zwischen Faktenvermittlung und „Spiel“ mit aufklärenden Brechungen und Verfremdungen. Das Material ihrer Recherchen hätte durchaus auch einen engagierten, formal herkömmlicheren Dokumentarfilm getragen; ihr aber geht es um mehr, nämlich um eine ambitionierte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Frauenhandels, die nicht allein über die Schicksale der Betroffenen informiert, sondern zugleich auch die Schwierigkeit zum Thema macht, für dieses Phänomen gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen. Nicht nur um den betroffenen Frauen den Schutz der Anonymität zu garantieren, lässt sie die fünf „Laiendarsteller“ erzählen, vielmehr ist dieser Kunstgriff Ausgangspunkt mannigfacher Verschachtelungen und Bezüge: Das Dokumentarische (die Schicksale der Frauen) lebt eigentlich nur in der Fantasie (der Erzähler wie auch der Zuhörer), während die Erzählenden wiederum zum Gegenstand des Dokumentarischen werden. Immer wieder ertappt man sich, wie man Bezüge zwischen dem Gehörten und dem Gezeigten herstellt, also selbst aktiv Handelnder wird. „Etwas Unsichtbares wird erzählt und ist die Haupthandlung“, erklärt Anja Salomonowitz. „Das ist kein Nebenprodukt, die Gedanken, die man sich dazu macht: die Geschichten, die man sich vorstellt, sind die eigentliche Haupthandlung des Films.“ Gelegentlich obsiegt dabei das Artifizielle über das Aufklärerische, wenn einen der detailreiche, souverän und virtuos gehandhabte Umgang mit Ton und Musik, Kamera und Schnitt nur noch staunen lässt. Doch immer wieder versachlicht der Film seine Kunstfertigkeit und findet zur erkenntnisreichen Reflexion zurück: über das Hereinbrechen der Realität in unseren Alltag. Das ist mal unheimlich, mal verstörend, und stets so spannend wie ein Kriminalfilm.
Kommentar verfassen

Kommentieren