Day Night Day Night

Drama | USA/Deutschland/Frankreich 2006 | 93 Minuten

Regie: Julia Loktev

Eine junge, namenlose Frau ohne erkennbare ethnische Herkunft ist "auserkoren", auf dem New Yorker Times Square ein Selbstmordattentat zu verüben. Julia Loktevs streng gestalteter Konzeptfilm verfolgt ihre letzten Tage und verweigert sich dabei allen Erklärungsversuchen. Ganz auf die Protagonistin fokussiert, werden politische Hintergründe ausgespart; stattdessen geht es um den existenziellen Kern der Tat und um den Alltag einer Figur zwischen vermeintlicher Hingabe an die Pflichterfüllung und Todesangst. (O.m.d.U.; Fernsehtitel: "Zwei Tage Zwei Nächte") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
DAY NIGHT DAY NIGHT
Produktionsland
USA/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
FaceFilm/ZDF/arte France Cinéma
Regie
Julia Loktev
Buch
Julia Loktev
Kamera
Benoît Debie
Schnitt
Julia Loktev · Michael Taylor
Darsteller
Luisa Williams (Sie) · Josh P. Weinstein (Kommandeur) · Gareth Saxe (Organisator 1) · Nyambi Nyambi (Organisator 2) · Frank Dattolo (Bombenbauer)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Seit einigen Jahren taucht im Kino die Figur des Selbstmordattentäters auf; man kann fast von der Genese eines neuen Genres sprechen. Die Darstellung dieser Figur, in der die Regisseurin Julia Loktev eine „kulturelle Ikone unserer Zeit“ erkennt, scheint untrennbar mit der Frage nach dem Motiv und dem damit verbundenen Wunsch der Nachvollziehbarkeit verknüpft. Motive gibt es, das ist unumstritten, doch Erklärungen bleiben zwangsläufig lückenhaft oder geraten unbefriedigend wie in „Shahida – Brides of Allah“ (2008), einer Dokumentation über palästinensische „Gotteskriegerinnen“, deren Alltag in einem israelischen Frauengefängnis dokumentiert wird. Mitunter arbeiten sie, ob gewollt oder nicht, ideologischen Vereinnahmungen zu, wie etwa Hany Abu-Assads viel beachteter Spielfilm „Paradise Now“ (fd 37247), der die letzten Stunden zweier junger palästinensischer Selbstmordattentäter erzählt. Julia Loktev grenzt sich mit ihrem formal strengen Konzept-Film „Day Night Day Night“ von jedem Erklärungsversuch ab, indem sie ihre Geschichte von allen soziologischen und politischen Hintergründen befreit und auf ihren existenziellen Kern reduziert. Angelehnt an einen Bericht über tschetschenische Selbstmordattentäterinnen in Moskau, begleitet der Film seine Hauptfigur, eine namenlose junge Frau ohne erkennbare ethnische Zugehörigkeit, Schritt für Schritt bei ihren sorgfältigen Vorbereitungen eines Anschlags auf dem New Yorker Times Square. Nach der Ankunft mit einem Bus steigt sie in einem Motel in New Jersey ab und wartet dort, in einem kargen Hotelzimmer, auf Anweisungen. Maskierte Menschen kommen, kleiden sie ein und geben ihr letzte Instruktionen für das Attentat. Ihre Identität gibt sie ab: Handy, Papiere, Kreditkarten und persönliche Gegenstände; stattdessen bekommt sie eine neue, die sie bald wie im Schlaf aufsagen kann. Ein Abschiedsvideo wird gedreht, dann folgt die Präparierung der Ausrüstung, bis sich die Frau schließlich allein mit ihrer Rucksackbombe inmitten einer Menschenmenge auf dem Times Square wiederfindet. Dialoge existieren in diesem nahezu wortlosen Film nicht – der Text hat immer monologisierenden Charakter: Anweisungen, Fragen, die nicht beantwortet werden und im Raum stehen bleiben, auswendig gelernte Texte, ein fiebriges Gespräch mit einer höheren (göttlichen) Instanz, zwischen Gebet und Selbstgespräch. Der Text: das ist aber auch das Gesicht der durch die Laiendarstellerin Luisa Williams eindrucksvoll verkörperten Hauptfigur, in dem man abwechselnd Angst, Zweifel, Panik und Entschlossenheit lesen kann; das sind die kleinen Gesten und alltäglichen Verrichtungen: Sie schrubbt ihren Körper, wäscht ihre Kleidung, isst und schläft. Sie wartet, mal voller Ruhe, dann nervös oder gelangweilt. Jeder ihrer Schritte erscheint dabei wie unter einem Vergrößerungsglas und wird zum unverzichtbaren Bestandteil ihres „Auftrags“. Die Wiederholungen scheinbar banaler Alltagshandlungen sind beunruhigend, da sie die Möglichkeit des „letzten Mals“ in sich tragen, doch Loktev gewährt ihrer Figur immer wieder einen weiteren kleinen Aufschub. Wenn sie etwa in Anwesenheit der maskierten Männer eine riesige Pizza isst, denkt man unwillkürlich an das Bild einer Henkersmahlzeit – ohne erahnen zu können, was sie bis zum Ende des Films noch alles in sich hineinstopfen wird: Frühlingsrollen, Brezeln mit Senf, einen kandierten Apfel und Süßigkeiten, die in den bonbonfarbenen Läden am Times Square angeboten werden. Manches wird aufgegessen, anderes landet schon nach wenigen Bissen im Mülleimer. In den Mahlzeiten verbinden sich Hunger, Übersprungshandlung und Tarnung. Denn inmitten der ahnungslosen Menschen suggerieren sie Normalität: ein ganz normales Mädchen, das mit einem Rucksack essend über den Times Square schlendert. Allein über den Körper wird das Innenleben der Figur ausagiert, über seine Bedürfnisse und sein Versagen – etwa dann, wenn sie sich vor Angst in die Hose macht oder ihre Hand zu zittern beginnt. Der Körper ist Hindernis und – als „lebende Bombe“ – machtvolles Instrument zugleich. Anfangs folgt die Kamera der jungen Frau in klaren und statischen Einstellungen, die Farben wirken blass und grau. Dann, im zweiten Teil des Films, löst sich die minimalistische und überaus kontrollierte Erzählung auf; eine atemlose Handkamera heftet sich fast buchstäblich an die Figur, die zunehmend desorientiert im bunten Treiben des Times Square umherstolpert. Loktev hat hier ohne Absperrungen gedreht, was zu einer bizarren Überlagerung von Wirklichkeit und Filmrealität führt. Denn die Passanten scheinen überwiegend gar nicht mitzubekommen, dass hier gerade ein Film gedreht wird, ebenso wie sie in der Erzählung nichts von dem bevorstehenden Attentat ahnen. So glaubt man plötzlich in einer Real-Life-Doku zu sein, deren Ausgang bis zum Schluss offen bleibt.
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