Dokumentarfilm | USA 2006 | 84 Minuten

Regie: Heidi Ewing

Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms stehen die evangelikale amerikanische Kinderpastorin Becky Fischer und das von ihr ins Leben gerufene "Jesus Camp" in North Dakota, das sich die christlich-fundamentalistische Indoktrination von Kindern zur Aufgabe gemacht hat. Der Film bietet einige erschreckende Einblicke, vertieft sein Thema jedoch nicht im Hinblick auf die gesellschaftliche Relevanz dieser Bewegung und ihrer Führungspersönlichkeiten. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JESUS CAMP
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
A&E IndieFilms/Loki Films
Regie
Heidi Ewing · Rachel Grady
Buch
Heidi Ewing · Rachel Grady
Kamera
Mira Chang · Jenna Rosher
Musik
Force Theory · Sanford Livingston · Michael Furjanic
Schnitt
Enat Sidi
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Becky Fischer ist sich ihrer provokanten Wirkung sehr bewusst. Vor laufender Kamera spekuliert die evangelikale Kinderpastorin aus einem Vorort von Kansas City, dass „extreme liberals“ – also alle, die im deutschen Sprachgebrauch als Linke gelten würden – gewiss zittern würden, wenn sie diesen Dokumentarfilm sähen. Selbst wer nicht zittert, wird in der Tat wohl mindestens einer anderen Erwartung Fischers entsprechen und sich besorgt fragen, was aus den Kindern werden mag, die man in Heidi Ewings und Rachel Gradys Film kennenlernt. Denn der zwölfjährige Levi, die neunjährige Rachael und die zehnjährige Tory werden ganz unverhohlen indoktriniert. Das beginnt im Unterricht, der im Falle Levis zuhause stattfindet, weil die Eltern, wie viele konservative amerikanische Christen, ihr Kind vor den Einflüssen des säkularen Schulsystems bewahren wollen. Sofern die Szene, die die Filmemacherinnen eingefangen haben, repräsentativ ist, besteht der Unterricht offenbar aus dem Abfragen vorgefasster Meinungen: Was an den Warnungen vor dem Klimawandel falsch sei, fragt die Mutter, worauf der Zwölfjährige sich pflichtschuldig überzeugt gibt, dass die Erderwärmung kein Problem sei. Vor allem aber findet die Indoktrination der Kinder in den Predigten statt, die Fischer in ihrer Kirche sowie in jenem Sommerlager in North Dakota hält, dem „Jesus Camp“ seinen Titel verdankt. Da ist es noch vergleichsweise harmlos, wenn die Pastorin sich, wie sie am Computer vorführt, einer Schrifttype aus animierten Blutstropfen bedient, um den Kindern möglichst eindringlich Angst vor der Hölle einzujagen. Bedenklicher erscheint es, wenn die Kinder dazu ermuntert werden, „in Zungen“ zu reden, und in diesem vermeintlichen spirituellen Ausnahmezustand in Tränen ausbrechen. Schlicht bizarr ist, wenn sie dazu aufgefordert werden, andächtig eine Pappfigur George W. Bushs zu berühren und für den Präsidenten zu beten. Fischer sagt gleich zu Beginn, dass Bushs Präsidentschaft der fundamentalistisch-christlichen Bewegung ungeheuren Auftrieb gegeben habe, und die Filmemacherinnen bekräftigen diese Ansicht, indem sie blasse DV-Impressionen provinzieller Tristesse mit anonymen Stimmen konservativer Radio-Moderatoren unterlegen, die ebenfalls die Gunst der Stunde betonen. Darüber hinaus sollen Nachrichten von der Nominierung und späteren Ernennung des Konservativen Samuel Alito zum Obersten Gerichtshof offenbar belegen, dass das Phänomen, das in „Jesus Camp“ beleuchtet wird, Teil einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung ist. Fischer stellt den provokantesten Aspekt ihrer Arbeit schließlich mehrfach in einen internationalen politischen Kontext: Dass sie sich Kindern widme, begründet die Pastorin damit, dass ein Drittel der Weltbevölkerung jünger als 15 sei und „unsere Feinde“ ebenfalls ihren Nachwuchs manipulierten. Mit Hinweis darauf, dass moslemische Kinder zu Selbstmordattentätern ausgebildet würden, bekundet sie den Wunsch, junge Menschen zu sehen, die „ihr Leben ebenso radikal für die Heilige Schrift“ aufs Spiel setzen. Wenn Fischers Schützlinge in ihrer Kirche zu schauderhafter christlicher Heavy-Metal-Musik einen Tanz aufführen, tragen die Jungen folgerichtig Tarnanzughosen und Tarnfarbe im Gesicht. Während die Aussagen, die Levi und Rachael im Interview machen, regelmäßig so klingen, als wären sie auswendig gelernt, scheint dies besonders auffällig, wenn sie sich zu ihrer Rolle als religiöse „Krieger“ äußern. Da stellt sich beim Kinopublikum unweigerlich Kopfschütteln ein – weshalb man auch nicht des Vorbilds des liberalen christlichen Radiomoderators Mike Papantonio bedarf, der kopfschüttelnd in Großaufnahme gezeigt wird, nachdem er Fischer für seine Sendung interviewt hat. Indem sie Papantonio von Beginn an mehrfach zu Wort kommen lassen, legen Ewing und Grady dessen kritische Perspektive nahe, was ihren Verzicht auf eigene Kommentare freilich inkonsequent erscheinen lässt. Das gilt umso mehr, als ihr Film von weiteren Informationen profitieren würde, die eine realistische Einschätzung der Tragweite des dargestellten Phänomens erst ermöglichen würden. Gelegentliche schriftliche Einblendungen bleiben auf die Mitteilung grundsätzlicher Fakten beschränkt, und außer Fischers Gemeindemitgliedern sowie Papantonio kommt nur noch die evangelikale Führungspersönlichkeit Ted Haggard zu Wort. Der hat freilich wenig zu sagen, was nicht schon vorher zu hören gewesen wäre, weshalb sein Auftritt vor allem interessant ist, weil er sich gegen Homosexualität ausspricht – und inzwischen wegen jahrelanger sexueller Kontakte zu einem Stricher aus Amt und Würden gejagt wurde. Weil aber weder die Kinder noch ihre Eltern oder Fischer im Alltag beobachtet werden, erfährt man nie, welchen Einfluss diese Eiferer auf ihre Umwelt haben. Erst recht bleibt unklar, welche Bedeutung sie innerhalb der vielschichtigen und im Wandel begriffenen evangelikalen Bewegung besitzen. So bleibt letzten Endes dahin gestellt, ob „Jesus Camp“ tatsächlich, wie Fischer meint, bei jemandem erschrockenes Zittern auslösen müsste.
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