Drama | Argentinien/Spanien/Frankreich 2007 | 91 Minuten

Regie: Lucía Puenzo

Eine mit dem "Adrenogenitalen Syndrom" geborene junge Frau muss sich mit dem gesellschaftlichen Druck auseinander setzen, der jede Abweichung von der Geschlechter-Norm ächtet. Ein Chirurg will eine "richtige" Frau aus ihr machen, sie jedoch geht daran, mit dem gleichaltrigen Sohn des Arztes, der sich seiner sexuellen Orientierung ebenfalls nicht ganz klar ist, der eigenen Identität nachzuspüren. Ein kämpferischer, dabei jederzeit unterhaltsamer Film, der sein Thema mit entwaffnender Direktheit angeht. Dabei macht er sich stilistisch wie inhaltlich überzeugend für das Recht auf Individualität stark. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
XXY
Produktionsland
Argentinien/Spanien/Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Historias Cinematograficas Cinemania/Pyramide/Wanda Visíon
Regie
Lucía Puenzo
Buch
Lucía Puenzo
Kamera
Natasha Braier
Musik
Andrés Goldstein · Daniel Tarrab
Schnitt
Hugo Primero · Alex Zito
Darsteller
Inés Efron (Alex) · Ricardo Darín (Kraken, Alex' Vater) · Valeria Bertuccelli (Suli, Alex' Mutter) · Germán Palacios (Ramiro) · Carolina Pelleritti (Erika)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Kool (16:9, 1.85:1, DD5.1 span./dt.)
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Diskussion
In schummrigem Licht stoßen korallen- und trompetenförmige Pflanzen ihre Samen und Eizellen in eine dunkelblau verdüsterte Unterwasserwelt. Gleichzeitig bahnt sich an der Oberfläche ein schlaksiges Mädchen hastig den Weg durch die Mangroven-Wälder der uruguayischen Küstenlandschaft. Korallen sind zweigeschlechtlich, genauso wie Alex. Doch während im sphärischen Vorspann zu „XXY“ die bunten Nesseltiere sich und ihren zwittrigen Zustand am Meeresgrund vor den zudringlichen Blicken eines in zwei Geschlechter unterteilten Tier- und Menschenreichs verbergen, hinterlässt Alex’ wütender Waldlauf den Beigeschmack einer Flucht – einer verzweifelten Flucht durch und besonders vor einer Umwelt, die dem Kind in ihrer Launenhaftigkeit noch vor der Geburt bedrohlich wurde und der es nun mit zerstörerischem Zorn begegnet. Seit 15 Jahren lebt das Mädchen mit den Auswirkungen des Adrenogenitalen Syndroms, das ihre Nebenniere schon im Mutterleib zu einem vermehrten Ausstoß vermännlichender Androgene anregte und sie mit einer penisähnlichen Klitoris zur Welt kommen ließ. Auf der Flucht befanden sich seitdem auch Alex’ Eltern, die ihrem Kind die physischen und mentalen Operationen einer Gesellschaft ersparen wollten, die alles, was unter den Zäunen einer rigiden Geschlechtertrennung hervorlugt, in faszinierter Abscheu wegzuschneiden versucht ist. Einer dieser „Schlächter“, wie sich Alex ausdrücken würde, ist der Schönheitschirurg Ramiro, der eines Tages auf das Drängen von Alex’ hilfesuchender Mutter mit Frau und Sohn Alvaro auf dem abgeschiedenen Anwesen auftaucht. Mit Busen und Nasen bringe sein Vater das Geld nach Hause, was ihn aber eigentlich interessiere, das seien die zu „reparierenden“ Deformationen seiner Patienten, zum Beispiel ein elfter Finger. So charakterisiert Alvaro seinen zugleich bewunderten und gefürchteten Vater vor Alex, die auf den 16-Jährigen zunächst wie ein ganz normales, vielleicht sexuell etwas zu aufbrausendes Mädchen wirkt. Ein Schulrausschmiss wegen der gebrochenen Nase ihres besten Freundes, mit Penis-Fortsätzen versehene Puppen und das überaus explizite Angebot ihrer Entjungferung wecken bei Alvaro mehr irritiertes Interesse als schockierte Ablehnung. Hilflosigkeit, Schweigen und die verkrampfte Suche nach Entscheidungen sind in Lucía Puenzos feinfühligem Plädoyer der Andersartigkeit ohnehin eher Sache einer in ihrem Selbstverständnis auf den Kopf gestellten Erwachsenenwelt. Erst der Dogmatismus Ramiros, seine Versuche, Alvaro mental zu einem „richtigen Mann“ und Alex chirurgisch zu einer „richtigen Frau“ zu machen, konfrontieren die verunsicherten Eltern mit einer Entscheidung, die sie bisher angesichts der empfundenen Perfektion ihres Kindes nicht zu treffen bereit waren. Indessen lässt Puenzo ihre jungen, fabelhaft besetzten Protagonisten das Tauziehen von Erziehung und Genetik mit einer umwerfenden Schnoddrigkeit und Direktheit austragen. Mit diesen schlagfertigen Waffen gerüstet, suchen sie sich trotz aller Unsicherheit und Selbstzweifel ihre sexuelle Nische in einer Welt, durch deren Ächtung erst das Leid des „Andersseins“ entsteht. Eine von außen generierte, schmerzlich hingenommene Isolation, die Alex jedoch nicht daran hindert, selbstbestimmt ihre tägliche Kortison-Dosis abzusetzen, während sich Alvaro mit seiner latent schlummernden Homosexualität auseinanderzusetzen beginnt. Dass der argentinischen Drehbuchautorin und Regisseurin beim Balanceakt zwischen Komik und Tragik nie das Gefühl für den richtigen Ton abhanden kommt, ist eine der zahlreichen Qualitäten dieses einfühlsam unvoyeuristischen Debütfilms, der die gängige Praxis der operativen „Normalisierung“ als das beschreibt, was sie ist: Eine Kastration des Körpers, die einer Amputation jeglicher Individualität gleicht. „Warum darf ich es niemandem erzählen, wenn ich so besonders bin“, fragt Alex als Vertreterin einer „auszurottenden Spezies“ eines Tages ihren besorgten Vater – und kommt damit der Faszination an dieser ausgewogenen Studie von elterlicher Verantwortung, Akzeptanz des Imperfekten und dem Grundrecht auf sexuelle Orientierungslosigkeit ziemlich nahe. Natürlich darf man solch eine besondere Geschichte erzählen – und zu einem außergewöhnlichen Film verarbeiten, auch oder gerade wenn dieser mit seiner risikofreudigen Grenzüberschreitung auf Berührungsängste stoßen könnte.
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