- | Deutschland/Kasachstan/Polen/Russland/Schweiz 2008 | 100 Minuten

Regie: Sergej Dwortsewoi

Ein junger Mann, der nach seinem Militärdienst Unterschlupf in der kasachischen Steppe bei der Hirten-Familie seiner Schwester gefunden hat, wirbt um eine Frau, um einen eigenen Hausstand gründen zu können. Diese aber lehnt sein Werben ab. Zugleich bringen die ungünstigen klimatischen Bedingungen die Schafhirten in Bedrängnis. Während die liebenswert-amüsante Liebesgeschichte Züge einer Romantic Comedy trägt, nimmt sich die fast dokumentarisch beobachtende Kamera in langen Einstellungen viel Zeit, um poesievoll das Leben der Menschen in der kargen Landschaft nachzuzeichnen und die Spannungen zwischen dem traditionellen Lebensstil und den durch Einflüsse von Außen genährten Sehnsüchten fühlbar zu machen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
TULPAN
Produktionsland
Deutschland/Kasachstan/Polen/Russland/Schweiz
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Pandora/Cobra/Pallas/Slovo/KAZ Export Cinema/Filmcontract/ZDF/arte/SF
Regie
Sergej Dwortsewoi
Buch
Sergej Dwortsewoi · Gennadi Ostrowski
Kamera
Jolanta Dylewska
Schnitt
Petar Markovic · Isabel Meier
Darsteller
Askhat Kuchinchirekow (Askhat) · Tulebergen Baisakalow · Samal Esljamowa · Ondajn Besikbasow · Bereke Turganbajew
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Das komplette Ensemble besteht aus gerade mal einem Dutzend Darstellern; inklusive aller Nebenfiguren. Das Setting: die gleichförmige kasachische Steppe, zwei Jurten, ein Stall. Die Kamera läuft minutenlang ohne Schnitt. Einen Score? Gibt es nicht. Dafür viele Schafe und noch mehr Sand. Karger und spärlicher als bei Sergei Dvortsevoys Spielfilmdebüt „Tulpan“ können die cineastischen Zutaten kaum ausfallen. Dwortsewoi zaubert daraus jedoch einen wunderschönen, poetischen Film, indem er Leere, Einsamkeit und Stille als Projektionsfläche für das nutzt, was nicht ins Auge springt: die Träume und Sehnsüchte seiner Protagonisten. Tulpan, die weibliche Titelfigur verkörpert einen solchen Traum. Der, der ihn träumt, ist Askhat, ein junger Mann, der gerade seinen Militärdienst als Matrose abgeleistet und nun arbeits- und mittellos bei der Familie seiner Schwester Samal Unterschlupf gefunden hat. Irgendwo in der wüstenähnlichen Steppe Kasachstans. In seiner marineblauen Uniform und mit seinen Geschichten von angriffslustigen Riesenkraken gibt er dort ein recht groteskes Bild ab. Der gelernte Dokumentarfilmer Dwortsewoi inszeniert mit „Tulpan“ die Begegnung von Tradition und Moderne in authentisch wirkenden, unspektakulären Bildern mit leisem Humor. Askhats bester Freund ist ein Händler, der in seinem verrosteten Traktor den Traum vom „goldenen Westen“ in kleinen Dosen aus der Stadt in die Steppe karrt: Süßigkeiten und Hochglanzmagazine mit schicken Häusern und barbusigen Frauen. Aus den Lautsprechern des scheppernden Gefährts dröhnt Boney M.s „Rivers of Babylon“. Doch während Askhats Kumpel vom Leben in der Stadt oder am Allerbesten in Amerika träumt, möchte Askhat die Moderne zu sich nach Hause holen. Er will bleiben, aber statt in einer Jurte in einem modernen Heim mit Solardach, Satellitenschüssel, Strom und 900 Fernsehsendern wohnen. Dazu aber braucht er zunächst einmal eine eigene Schafherde, und die überlässt ihm sein Schwager Ondas erst, wenn er auch eine eigene Frau hat. Also geht es auf Brautschau zur einzigen Kandidatin weit und breit: Tulpan. Als Askhat bei Tulpans Eltern vorstellig wird, bekommt er die Umworbene jedoch nicht einmal zu Gesicht. Sie linst durch den Spalt eines Vorhangs, und ihr Urteil fällt vernichtend aus: Askhats Ohren sind ihr zu groß. Doch gerade, weil er Tulpan nur als ein Rascheln im Vorhang kennt, verliebt sich Askhat in sie. Beim zweiten Anlauf hat er ein Poster eines vermeintlich „afrikanischen“, nein, „amerikanischen“ Prinzenpaars bei sich als Beweis dafür, dass auch königliche Hoheiten abstehende Ohren haben können: Es ist ein Bild von Prinz Charles und Lady Diana. Tulpan bleibt die Komik dieses Moments verborgen, und umstimmen lässt sie sich davon auch nicht: Sie hat sich im Stall versteckt, und Askhat erzählt ihr durch die Tür hindurch von seinen Zukunftsvisionen. Seine Realität jedoch sieht trister aus. Ondas’ ausgemergelte Schafe bringen nur noch tote Lämmchen zur Welt. Wirbelstürme fegen über Herde und Hütte, und der Schwager lässt Askhat spüren, dass er auf Dauer nicht willkommen ist. Behutsam verbindet Dwortsewoi die verschiedenen Konflikte zwischen Moderne und Tradition, Natur und Mensch, Traum und Wirklichkeit zu einer liebenswerten und amüsanten Geschichte; ganz ohne Melodrama und Gut-Böse-Konstellationen. Die langen Einstellungen geraten nicht langweilig, weil die Kamera ebenso wie die Erzählung kaum einmal stillsteht, sondern – geduldig zwar und ruhig, aber eben auch beständig – in Bewegung bleibt. Anstatt die Zwangsgemeinschaft von Protagonist und Landschaft in der Montage aufzulösen, unterstreicht sie der 2008 in Cannes mit dem „Un Certain Regard“-Preis geehrte Film, indem er den Schwenk dem Schnitt vorzieht und so ausdrucksstarke Nah- und eindrucksvolle Panorama-Aufnahmen in einer Einstellung vereint. Die Enge der Jurte und die Weite der Steppe ergänzen einander in „Tulpan“ zu einem doppelsinnigen, lyrisch-naturalistischen Porträt eines Landes ohne Chance – und der grenzenlosen Möglichkeiten.
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