Love Exposure

Liebesfilm | Japan 2008 | 237 Minuten

Regie: Sion Sono

In virtuosen Rhythmus-und Perspektivwechseln erzählter Film, der im Kern eine klassische Liebesgeschichte ist: Ein junger Mann kann seinen Vater, einen katholischen Priester, nur durch Sünden für sich interessieren. In Wahrheit aber sucht er die große Liebe und begegnet ihr schließlich ausgerechnet als Frau kostümiert. Ein souverän inszenierter Film als bewegende Grenzerfahrung. Er bietet große Kinomomente, wobei er auf den ersten Blick Unvereinbares verbindet: Katholizismus und sexuelle Perversion, Kampfkunst und Romantik, religiöses Sektierertum und libertäre Gesinnung, Sünde und Unschuld. In einem Zeichensystem aus barocker Überfülle vereint sich schließlich alles im Glauben an die Liebe. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
AI NO MUKIDASHI
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Omega Project/An Entertainment/Studio Three Co.
Regie
Sion Sono
Buch
Sion Sono
Kamera
Sôhei Tanikawa
Musik
Tomohide Harada
Schnitt
Junichi Ito
Darsteller
Takahiro Nishijima (Yu) · Hikari Mitsushima (Yoko) · Sakura Ando (Koike) · Hiroyuki Onoue (Takahiro) · Yutaka Shimizu (Yuji)
Länge
237 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Liebesfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
REM (16:9, 2.35:1, DD5.1 jap.)
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Diskussion
In der 55. Minute sieht man eine Straßenkreuzung in Tokio. In der Mitte liegt ein Platz für Fußgänger, ein Stück jener einfallslosen Stadtarchitektur der Gegenwart: Treppenstufen, auf denen sich Passanten behelfsmäßig niederlassen, Betonklötze, die von Skateboardern als Sprungschanze genutzt werden, Pflanzen, lieblos in Steinwannen arrangiert. Dort lauert am helllichten Tag eine mindestens 13-köpfige Straßengang einem Schulmädchen auf. Sie will es demütigen, im Auftrag einer Femme Fatale, die wie eine Unglücksbotin über der Geschichte schwebt: eine Kraft, die stets das Böse schafft. Yoko, das Mädchen, kniet kurz nieder, die Augen gehen zum Himmel, und sie seufzt aus tiefstem Herzen: „Jesus, vergib diesen Vollidioten.“ Dann nimmt sie den Kampf auf. In diesem Augenblick ereignet sich das „Wunder“, das im Film zuvor bereits durch verschiedene Inserts angekündigt wurde: Yu und Yoko, das einstweilen künftige Liebespaar, trifft sich zum ersten Mal, erkennt sich, wenn auch noch auf verquere Weise, die zunächst mehr verwirrt als Klarheit schafft. Es beginnt für die beiden Hauptfiguren auch ein Kreuzweg, der derart viele Leiden und schwere Herausforderungen parat hält, dass man mehr als einmal am glücklichen Ausgang der Geschichte zweifelt. Es ist dies auch der Augenblick, in dem alle Erzählfäden zum ersten Mal zusammenlaufen und der Film seinen Höhepunkt erreicht. Ein Augenblick reinsten Kinos: Bewegung, Musik, Rhythmus, Schnitt fallen in eins, Ravels „Bolero“, der in seiner sich ständig verzögernden und zugleich steigernden Bewegung stoppt und der Titel erscheint: „Love Exposure“. Die Erscheinung der Liebe. Als die 55. Minute erreicht ist, ist erst ein knappes Viertel des Films vorbei, und doch vergeht er wie im Fluge, kurzweilig und überbordend, einfallsreich und poetisch. Dabei ist es nicht so, dass Sono Sions „Love Exposure“ perfekt wäre, aber der Film macht so vieles richtig, ist so originell, überraschend und bezaubernd, dass es auf die kleineren Unzulänglichkeiten nicht ankommt. Eigentlich erzählt Sono Sion eine ganz einfache und eingängige Geschichte. Sie handelt von der Liebe. Sie sieht nur auf den ersten Blick nicht so aus. Auf den ersten Blick ist „Love Exposure“ das reine Chaos. Ein exzentrischer Film, ein wilder, undisziplinierter Stilmix, zusammengehalten von der Absicht, das reichhaltige Terrain der Perversion und des Tabubruchs zu erforschen, erklärbar am ehesten durch das, was man so in unseren Breitengraden für „typisch japanisch“ hält. Der Film mischt alles Mögliche, wenn auch durchaus schlüssig. Zudem ist er obsessiv, bemüht sich nie um Ausgewogenheit oder Zurückhaltung. Darin ähnelt er den Filmen von Luis Buñuel oder den Texten von Georges Bataille. Sion selbst nennt mit Fassbinder und Cassavetes noch klassischere Autorenfilmer als seine Vorbilder, offenkundig sind der Bezug auf Shakespeare sowie ein barockes Kunstverständnis: Ornamente und Manierismen, Trompe d’oeils und Perspektivwechsel, Pathos und opulente Sinnlichkeit sind in diesem Werk zentral, das auf jene Zurückhaltung verzichtet, die das europäische Verständnis japanischer Kunst, auch Kinokunst prägt. Was man „Love Exposure“ ansieht, ist die umfassende kulturhistorische Bildung des Regisseurs, seine zahllosen, nie oberflächlichen Referenzen an die Musik- und Filmhistorie, an die Religions- und Kulturgeschichte Europas und Ostasiens. Ein Versuch, die fein und klug ineinander verwobenen Ebenen wieder auseinander zu schnüren, könnte so aussehen: Zum einen erzählt der Film, wie gesagt, eine klassische Liebesgeschichte, geknüpft an westeuropäische Motive: Zwei Liebende werden eingeführt, die füreinander bestimmt sind. Sie verfehlen sich immer wieder, sind zuerst durch Abneigung verbunden, sind zudem angeheiratete Geschwister, und da bei ihrer ersten Begegnung Yu als Frau verkleidet war, glaubt Yoko, sich in eine Frau verliebt zu haben, und ist dadurch sexuell zutiefst irritiert. Diese Ebene der Geschlechterverwechslungskomödie kennt man von Shakespeare. Yu verliert als kleiner Junge seine Mutter. Im Folgenden ist er psychoanalytisch charakterisiert durch einen klassischen ödipalen Konflikt: die Verklärung der Mutter, der Wunsch, ihrer unsterblichen Liebe gerecht zu werden. Und die Rivalität mit dem Vater, der Kampf um väterliche Anerkennung, der als Konkurrenz ausgetragen wird. Es ist auch der Kampf mit einer religiösen Autorität, denn der Vater ist nach dem Tod der Mutter katholischer Priester geworden, allerdings ein sündiger, der mehrfach einer alternden Femme Fatale verfällt. Um so mehr will er seinen Sohn zur Reinheit erziehen, zwingt ihn zur täglichen Beichte. Was aber, wenn man gar keine Sünden zu beichten hat? Yu sorgt dafür, dass das anders wird. Es ist bemerkenswert, dass ein Film aus Japan derart ausführlich und ernsthaft von Religion handelt und mit religiöser Metaphorik arbeitet. Auch Hexen gibt es. Die dritte Hauptfigur ist nämlich die Mitschülerin Kaori, die mit ihren Freundinnen und (fast) ständigen Begleiterinnen exakt den drei Hexen ähnelt, die in Shakespeares „Macbeth“ die Umwertung aller Werte betreiben. Durch väterliche Vergewaltigung traumatisiert und wahnsinnig geworden, agiert Kaori als verführerische wie hysterische Femme Fatale. Zudem wird sie zynische Anführerin einer radikalen, anti-christlichen, Terror-Sekte; Erinnerungen an die mörderische Aum-Erlösungssekte, deren sinistre Anschläge die japanische Gesellschaft nachhaltig verstörten, sind keineswegs unbeabsichtigt. Es gibt also auch eine politisch-soziale Ebene voller Zeitbezüge zur japanischen Gegenwartsgesellschaft. Über allem steht die Entfaltung von Facetten der Sexualität, vor allem ihrer japanischen Spielarten, zu denen die Akzeptanz von Pornografie ebenso gehört wie die schwer verständliche Faszination für Upskirt-Fotografie und der hohe Stellenwert jeder Form von Voyeurismus. Noch wichtiger als all dies bleibt die Inszenierung: ihre Originalität und die Verwendung der filmischen Mittel, eine visuelle Ökonomie der Verschwendung, die in der Gegenwart ohne jedes Beispiel ist: Sono Sion schafft dichte, großartige Kinomomente. Sein Film ist ganz und gar Pop in Reinform; ein eklektischer Zusammenfluss von Hochkultur und Trash, erzählt mit viel Lust an Ellipsen und Exkursen, voller Referenzen – musikalisch an sakrale Gesänge, Beethoven und den erwähnten Ravel, ebenso an Heavy Metal, westlichen und japanischen Pop, filmisch an Kubrick, Bresson, den Yakuza-Film und das Martial-Arts-Genre, in der Erzählform zudem stark beeinflusst von Manga-Comics. Man müsste wohl noch lange weitermachen, wenn man den ästhetischen wie geistigen Reichtum des Films analytisch ausschöpfen möchte. Wie jedes große Kunstwerk ist „Love Exposure“ ein einzigartiges Kinoerlebnis. Es ist, einmal muss man das schreiben, ein genialer Film.
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