Der Wind zieht seinen Weg

- | Italien 2006 | 114 Minuten

Regie: Giorgio Diritti

In einem Dorf in den piemonteser Alpen, dessen Bevölkerung allmählich überaltert, da die Jungen abwandern, findet ein französischer Hirte mit seiner Familie und seinen Ziegen ein neues Zuhause. Zunächst unterstützen die Einheimischen die Neuankömmlinge, doch bald treten erste Spannungen auf. Mit dokumentarischer Neugier und mit Hilfe von Laiendarstellern in den Nebenrollen entwirft der Film ein eindrucksvolles Porträt des ländlichen Lebens, das einen wachen Blick für dessen Schönheiten, aber auch für seine inneren Brüche beweist. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IL VENTO FA IL SUO GIRO | E L'AURA FAI SON VIR
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Aranciafilm/Imago Orbis Audiovisivi
Regie
Giorgio Diritti
Buch
Giorgio Diritti · Fredo Valla
Kamera
Roberto Cimatti
Musik
Marco Biscarini · Daniele Furlati
Schnitt
Edu Crespo · Giorgio Diritti
Darsteller
Thierry Toscan (Philippe Héraud) · Alessandra Agosti (Chris Héraud) · Dario Anghilante (Costanzo, der Bürgermeister) · Giovanni Foresti (Fausto) · Caterina Damiano (Emma)
Länge
114 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Die Probleme, mit denen sich einst von Bergbauern besiedelte Regionen heute auseinander setzen müssen, haben in den letzten Jahren mehrfach Dokumentarfilmer (u.a. Erich Langjahr, Raymond Depardon) interessiert: Die harte Arbeit der Bauern lohnt nicht mehr, die Jungen wandern in die Städte ab, Dörfer und Höfe veröden. Damit drohen spezifische Kulturen und Kulturlandschaften, mitunter auch ganze Sprachen unterzugehen. Etwa das Rhätoromanische oder die „langue d’oc“ bzw. das „Okzitanische“, eine alte Sprachgruppe, die im Süden Frankreichs, in den Pyrenäen und einigen italienischen Alpentälern gesprochen wird. Zu diesen gehört das piemontesische Maira-Tal, in dem Giorgio Dirittis Spielfilm angesiedelt ist. Die deutsche Übersetzung „Der Wind zieht seinen Weg“ schleift die Bedeutung des Originaltitels etwas ab: „Giro“ beschreibt eine Kreisbewegung; der Titel ist der ersten Teil eines Sprichworts, das einer der Protagonisten zitiert: „Alles kehrt irgendwann zurück.“ Das impliziert, dass „frischer Wind“ nichts ist, vor dem man sich fürchten muss: Alles muss sich verändern, um im Lauf der Zeit bestehen zu können. Theoretisch wissen das auch die Bewohner von Chersogno, einem alten Weiler, der außerhalb der Feriensaison auszusterben droht; selbst der Bürgermeister lebt nicht mehr im Dorf, verbringt nur jedes zweite Wochenende dort. Dann kommt Philippe Héraud ins Tal: Er möchte einen Hof für seine Familie und seine Ziegen kaufen und seinem Handwerk als Hirte und Senn nachgehen, das er bereits in den Pyrenäen ausgeübt hat. Früher war er Lehrer, doch er fühlte sich in diesem Beruf mit seiner Bürokratie nicht wohl. Im Dorf verursacht das Auftauchen des Fremden helle Aufregung und Debatten, doch dann setzen sich die Stimmen durch, die eine Verjüngung der Bevölkerung begrüßen. Gemeinsam wird angepackt, um der Familie beim Herrichten eines geeigneten Domizils zu helfen. Als die Hérauds eines nachts eintreffen, ist der ganze Ort mit Lichtern auf den Beinen, um die Familie zu begrüßen und den Neuanfang zu feiern. Doch die Harmonie währt nicht lange. Bald stören sich einige Bewohner daran, dass Philippes Ziegen und Schweine viel Lärm und Dreck machen; andere achten peinlichst auf die Wahrung von Weidegrenzen – auch wenn sie das Land nicht mehr bewirtschaften. Philippe ist wenig geneigt, auf solche Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen, reagiert seinerseits immer sturer – was weder der Beziehung zu den Nachbarn gut tut noch dem häuslichen Frieden: Philippes Frau leidet zunehmend unter den Spannungen und entfremdet sich von ihrem Mann. Schließlich schaukeln sich die Reibereien zu einem kleinen Krieg hoch. Dass Giorgio Diritti von Ermanno Olmi beeinflusst wurde (im Rahmen des Projekts „ipotesi cinema“), zeigt nicht nur seine Faszination für das ländlichen Leben, sondern auch die Art der Darstellung: die mitunter fast meditative Ruhe, mit der sich seine Erzählung auf den Lebensrhythmus einlässt, die Sinnlichkeit, mit der sich der Blick in Details verfängt, die dokumentarische Neugier, mit der er den bäuerlichen Alltag verfolgt (wobei neben den Hauptdarstellern Laien aus der Region zu sehen sind). Die Kamera findet wunderbare Landschaftsbilder und Stillleben, ohne die Vision eines Arkadien als idyllisches Gegenstück zur städtischen Moderne zu entwerfen, vielmehr mit großer Ehrlichkeit gegenüber den Schattenseiten und vor allem den Brüchen. Diese haben trotz aller naturgegebenen Widrigkeiten weniger mit kargen Weiden und harten Wintern, mit Schlamm und Regen, mit Ziegendreck oder Schweinegestank zu tun als mehr mit der menschlichen Schwäche, das Eigene um jeden Preis bewahren zu wollen und Veränderung nicht zulassen zu können. Drückt sich darin auch eine relativ pessimistische Einschätzung aus, was die Zukunftstauglichkeit der Bergregionen angeht, gibt der Film selbst Anlass zu Optimismus: Ohne potente Produzenten allein mit Geldern der Filmkommission der Region Piemont fertig gestellt, fand er zunächst keinen Verleih; was in Italien, wo ein Großteil der Kinos den führenden Verleihfirmen gehört, zugleich bedeutete, dass nur die wenigen unabhängigen Lichtspielhäuser als Abspielstätten in Frage kamen. In einem von diesen, dem Mailänder Vorstadtkino „Mexico“, begann schließlich die Erfolgsgeschichte des Films, der sich allmählich zum Insider-Tipp und Dauerbrenner entwickelte und seine Produktionskosten mittlerweile um ein Vielfaches eingespielt hat. Ein Triumph für das Independent-Kino.
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