Dokumentarfilm | Österreich 2008 | 106 Minuten

Regie: Nikolaus Geyrhalter

Dokumentarfilm auf den Spuren der Rallye Paris-Dakar, bei dem das Rennen selbst ausgespart bleibt, während die Menschen am Rand der Strecke ins Zentrum rücken. Er gewinnt im Wechselspiel von meditativen Landschaftstotalen, Alltagsbeobachtungen und Interviews große sinnliche Überzeugungskraft, büßt aber an Prägnanz ein, wenn sich das Thema "Migration" in den Mittelpunkt schiebt. Gleichwohl eine facettenreiche Bestandsaufnahme der afrikanischen Gegenwart. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
7915 KM
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
NGF
Regie
Nikolaus Geyrhalter
Buch
Maria Arlamovsky · Nikolaus Geyrhalter · Wolfgang Widerhofer
Kamera
Nikolaus Geyrhalter
Schnitt
Wolfgang Widerhofer
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Paris-Dakar. Das klingt nach Hitze, Staub und dem Triumph der Beschleunigung. Ein magisches, vielleicht sogar mythisches Kürzel. Knapper lässt sich die härteste Rallye der Welt nicht auf den Begriff bringen, bei der PS-starke Offroad-Vehikel in knapp zwei Wochen quer durch die Sahara bis zur Atlantikküste im Senegal donnern. In den telegenen Bildern, die das Autorennen zum Emblem einer enthemmten Mobilität gemacht haben, jagen aufgemotzte Fahrzeuge über holprige, von Menschenmassen gesäumte Wege. Die Afrikaner bleiben in solchen temporeich geschnittenen Reportagen illustres Beiwerk, genauso wie die Landschaften und Siedlungen; was einzig zählt, sind die rasende Bewegung und die robusten Gefährte. In den aktuellen Werbeclips der Rallye, die man eingangs sieht, sind rassistische Anklänge allerdings sorgfältig getilgt; Menschen tauchen darin überhaupt nicht mehr auf; dafür aber sorgen ein euphorisierender Soundtrack und virtuose (Flug-)Kameraperspektiven für eine grandiose Heroisierung des Unterfangens. Vor dieser hypnotisierenden Kulisse nimmt sich der lakonisch-schlichte Titel „7915 km“, mit dem der österreichische Dokumentarist Nikolaus Geyrhalter seine Replik überschrieben hat, ziemlich trocken, wenn nicht akademisch aus. „Auf den Spuren der Rallye nach Dakar“, heißt es denn auch präzisierend im Untertitel, was zunächst durchaus wörtlich genommen werden kann. Denn Geyrhalter und sein Team fuhren dem Rennen 2007 mit der Kamera hinterher, allerdings in einem weit gemächlicheren, menschlicheren Tempo, weshalb sie für die komplette Strecke auch vier Monate brauchten und am Ende mit 70 Interviews und 110 Stunden (HD-)Material zurück kehrten. Die Rallye war der Aufhänger für eine dokumentarische Expedition, um jenen näher zu kommen, die sonst in den Staubwolken der schnellen Boliden und ihrer medialen Images verschwinden. Von den Rennautos sieht man im Film tatsächlich kaum mehr als die Furchen, die sie im sandig-felsigen Untergrund hinterlassen haben: geschundene Pisten, zerschlissene Dünen, ausrangierte Reifen, mit denen Kinder spielen. Der Kontrast zwischen der lärmenden Rallye-Promotion in Paris und der Stille der menschenleeren Wüstenlandschaft ist immens, was freilich auch aus Geyrhalters stilistischer Handschrift resultiert, präzise kadrierten und zentralperspektivisch fokussierten CinemaScope-Totalen, die lange stehen bleiben und zum genaueren Hinschauen ermutigen. „Dauer ist eine politische Kategorie“, kommentiert Geyrhalters langjähriger Mitstreiter, der Cutter Wolfgang Widerhofer, im Presseheft die ästhetische Grundkategorie ihrer Filme. „Wenn man nur lange genug hinschaut und sich für die Menschen Zeit nimmt, dann wird immer so etwas wie Wahrheit sichtbar.“ Zur räumlichen Orientierung durch die Standbilder kommt eine zeitliche, welche die stilisierten Landschaftstableaus ins Leben einbindet, etwa jene Sequenz, in der Geyrhalter eine Gruppe Halbwüchsiger an einem Wasserloch in den Blick nimmt, wo sie ihre zerstoßenen Plastikkanister füllen. Die (Hand-)Kamera folgt ihnen auf dem Weg zurück zu ihren Zelten, gefühlte drei Minuten lang, obwohl es dann aber gar nicht um die Jugendlichen, sondern ihren Vater geht, der mit bedächtigen Worten über das Leben der Nomaden sinniert. Wenn man sich auf diese aus „Elsewhere“ (fd 35 681) und „Unser täglich Brot (fd 37 987) bekannte Ästhetik einlässt, gewinnt das Wechselspiel zwischen Landschaft, Handlung und Interview eine große sinnliche Überzeugungskraft, die fremde Erfahrungswelten erschließt – und sei es nur als Ahnung, wie sich die Zeit in einer Welt jenseits von Motorisierung und dem Diktat der Taschenuhr anfühlt, die ihrer archaischen Verfasstheit zum Trotz eine tiefe Gelassenheit ausstrahlt. Je weiter der chronologisch montierte Film nach Afrika vordringt, Marokko und die Westsahara hinter sich lässt, um quer durch Mauretanien eine kurzen Abstecher nach Mali zu nehmen und schließlich in den Senegal zu münden, desto vielfältiger werden die Themen und Biografien. Hier ein greiser Mann, der in einer Kupfermine einen gewaltigen Bagger steuert, um seine Familie zu ernähren, dort ein Filmvorführer in Mali, der weiße Pornos aus den 1970er-Jahren zeigt, ein Station weiter eine junge Senegalesin, die kokett durch ihr Dorf tänzelt und in geschliffenem Französisch die geheime Korrespondenz zwischen den Baumaterialien der Hütten — Stein, Holz, Lehm — und einer erfolgreichen Migration nach Europa offenbart. Die Erinnerungen an den Rallye-Tross verblassen dabei in dem Maße, wie das Migrationsthema in den Vordergrund drängt: als Fluch wie Segen, weil ganze Dörfer ausbluten, die zurückgebliebenen Alten, Frauen und Kinder aber am Tropf der finanziellen Transfers hängen. Südlich der Sahara beginnt Afrika nicht nur zu grünen, sondern scheint auch im Wunsch vereint, kollektiv in den Westen auszuwandern – obwohl sich (fast) alle im Klaren sind, wie viele Menschenleben dieser Traum schon gekostet hat. Bei diesem Thema gerät „7915 km“ selbst an eine Grenze, da sich schon viele Dokumentaristen (jüngst etwas Bettina Haasen in „Hotel Sahara“, fd 39 401) der afrikanischen Wanderbewegung angenommen und ihr mit einer beweglicheren Filmsprache eine Fülle an Aspekten abgewonnen haben. Die bezwingende Idee, einem Fetisch der Geschwindigkeit durch die Kunst der Langsamkeit Paroli zu bieten und darüber sinnlich-unmittelbare Schlaglichter auf die afrikanische Gegenwart zu werfen, büßt hier ihre Prägnanz ein, auch wenn die Bilder beschlagnahmter Flüchtlingsboote im Hafen von Dakar eine eindringliche Sprache sprechen.
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