Boxhagener Platz

- | Deutschland 2009 | 102 Minuten

Regie: Matti Geschonneck

Rund um den Boxhagener Platz in Ostberlin entfaltet sich ein Panorama kleinbürgerlicher Existenzen im Jahr 1968: Während im Westen die Jugendrevolte tobt, arrangieren sich hier Altnazis wie linke Idealisten, Kritiker wie Mitläufer mit dem DDR-Regime. Im Mittelpunkt stehen eine resolute Großmutter, Familienverstrickungen und ein rätselhafter Mord. Der vorzüglich gespielte "Heimatfilm" lässt das damalige Lebensgefühl lebendig werden, wobei das Politische weitgehend im Privaten aufgelöst und ein pointiert unterhaltender Ton angeschlagen wird. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Claussen + Wöbke + Putz Filmprod./WDR/RBB/ARTE/Studio Babelsberg/Babelsberg Film
Regie
Matti Geschonneck
Buch
Torsten Schulz
Kamera
Martin Langer
Musik
Florian Tessloff
Schnitt
Dirk Grau
Darsteller
Gudrun Ritter (Otti) · Michael Gwisdek (Karl Wegner) · Samuel Schneider (Holger) · Jürgen Vogel (Klaus-Dieter) · Meret Becker (Renate)
Länge
102 Minuten
Kinostart
04.03.2010
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs sowie ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Pandora (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Am 7. Oktober 1968 wird im DDR-Fernsehen der Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik gefeiert. Auf der Straße im Viertel um den Boxhagener Platz in Berliner Stadtteil Friedrichshain formiert sich der Fanfarenzug der FDJ. Während im Westen die Studentenrevolte tobt und die Illustrierte „Stern“ titelt: „Ist die Revolution noch zu stoppen?“, hat die Revolution im Osten nie stattgefunden; in der Tschechoslowakei sind die Panzer einmarschiert. Das schmerzt die alten Kommunisten, etwa den ehemaligen Spartakuskämpfer Karl, demzufolge die DDR nur von Opportunisten wie Walter Ulbricht, „dem Zickenbart“, regiert werde. Politik wird in der Kneipe „Zum Feuerlöscher“ sowie im Fischladen gemacht. Hier schwingt nicht nur der Besitzer „Fisch-Winkler“ markige Nazi-Reden, denn der Krieg liegt noch nicht lange zurück, und der Hass auf „den Russen“ ist bei dem einen und anderen ehemaligen Landser noch aktuell; bei manchen, wie Ottis derzeitigem Ehemann Rudi, zirkuliert sogar noch der Granatsplitter im Kopf herum. Otti hat keine Zeit für Stammtischpolitik. Sie schneidet Zwiebeln und wundert sich über nichts mehr. Oft geht sie mit ihrem Enkel zum Friedhof, da hat sie einiges zu tun, denn hier liegen fünf ihrer Ehemänner, derweil ihr Gegenwärtiger, Rudi, todkrank im Bett liegt. Auf dem Friedhof zeigt ihr der Witwer Karl immer deutlicher seine Sympathie, und auf dem Heimweg versucht der dicke Fischhändler, ihr Herz mit frischen Karpfen zu gewinnen. „Kerle können noch so alt sein, aber von den Weibern können sie bis zum Schluss nicht lassen“, zischelt Otti ihrem Enkel zu. Aber dann wird Winkler tot in seinen Laden aufgefunden, erschlagen mit einer Bierflasche. War es ein Mord aus Eifersucht oder aus politischem Hass? Es tauchen Flugblätter auf, und die Ostberliner Kriminalpolizei vermutet eine Verschwörung langhaariger Kommunarden aus dem feindlichen Westberlin. Ein Berliner Heimatfilm, so lautet der Untertitel, aber von „Ostalgie“ ist Matti Geschonnecks „Boxhagener Platz“ nach dem Roman von Torsten Schulz weit entfernt. Es ist eine Hommage ans Berlin der 1960er-Jahre, an jenen Teil der Stadt, der sich bis 1989 als „Hauptstadt der DDR“ definierte. Das Buch wird ganz aus der Perspektive von Ottis Enkel Holger erzählt, der Film lebt indes von der Dynamik des gesamten Ensembles. Geprägt wird er ganz entschieden von der beeindruckenden Gudrun Ritter als Otti, einer Großmutter Courage mit gnadenlosem Mutterwitz. Ottis Tochter Renate träumt vom Westen und langweilt sich mit ihrem Ehemann, einem biederen Volkspolizisten; ihr gemeinsamer Sohn Holger verbringt die meiste Zeit mit der Oma, aber deren Liebling, Sohn Bodo, macht sich rar, denn er ist „hormonsexuell“ und inszeniert sein Coming-out mit einem Briefträger aus Westberlin ausgerechnet während des familiären Heiligabend-Essens. Fast beiläufig erzählt der Film von den politischen Hintergründen, den Widersprüchen des Satelliten „Kommunismus“ unter Walter Ulbricht und den ideologischen Verwirrungen an der Oberschule „Juri Gagarin“. Zugleich ist er ein skurriles Porträt der Kriegsgeneration, die sich mit Stammtisch-Parolen und schneller Anpassungs- und Organisationsfähigkeit im aufblühenden Sozialismus Nischen geschaffen hat. Nicht zuletzt funktioniert der Film als wunderbare Liebesgeschichte im fortgeschrittenen Alter, bei der die Alten fast jugendlicher wirken als ihre Kinder und Enkelkinder. Neben den brillanten Hauptfiguren sind auch die kleinsten Nebenrollen beeindruckend gut ausgefüllt, einmal abgesehen von den beiden Kriminalbeamten als Verkörperung der dunklen sozialistischen Staatsmacht. Hölzern und stereotyp auch die Ausstattung: Die abgeblätterten Berliner Fassaden mit Gaslaternen und Eckkneipe lassen eher an ein Musical im Zille-Milieu denken. In „Boxhagener Platz“ siegt das Private über das Politische, und so ist der Tod des einzigen politischen Idealisten folgerichtig. Die dramatischen Entwicklungen am Ende bewahren die Geschichte vor dem Abstieg ins urbane Bauerntheater. Die brillante Situationskomik und die pointierten Dialoge bringen einen immer wieder zum Lachen, dabei erzählt „Boxhagener Platz“ wenig Neues, ist aber stets charmant und höchst unterhaltsam.
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