Auf der anderen Seite der Leinwand - 100 Jahre Moviemento

Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 82 Minuten

Regie: Bernd Sobolla

Materialreiche Rückschau auf die Geschichte des Kreuzberger "Moviemento"-Kinos, einem Treffpunkt der Berliner Subkultur, mit dem Namen wie Manfred Salzgeber, Wieland Speck, Blixa Bargeld und Tom Tykwer verbunden sind. Die Dokumentation lässt Macher und Zeitzeugen zu Wort kommen und verdichtet ihre O-Töne zu einem spannenden Protokoll über kulturelle Veränderungen, die sich aus der Kreuzberger Nische in die Mitte der Gesellschaft verlagerten, spart aber auch nicht die Rückschläge und Fehlschlüsse der damaligen Macher aus. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Studio Kitsune
Regie
Bernd Sobolla
Buch
Bernd Sobolla
Kamera
Peter Domsch
Musik
Mark Collinson
Schnitt
Udo Röben
Länge
82 Minuten
Kinostart
29.04.2010
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Geschichten aus der Geschichte des Kinos gibt es viele. In diesem Fall aber geht es um ein Kino, in dem seit 1973 selbst Geschichte gemacht wurde. Auf Initiative des späteren Leiters der „Berlinale“-Sektion „Panorama“, Manfred Salzgeber, wurde damals das Berliner „Tali-Kino“ zu einem Programmkino. Zwischen Kiez, intellektuellem Avantgardismus und subkultureller Nische gehörte das Team um Salzgeber zu den Erfindern jener „Kreuzberger Mischung“, deren Anekdoten sich später zur Legende verdichteten und deren kreative Ideen den Kulturbegriff nachhaltig veränderten. Seit 1984 heißt das Haus „Moviemento“, 2007 wurde es 100 Jahre alt – Anlass für den Journalisten Bernd Sobolla, auf die Suche nach dem Lebensgefühl einer Ära zu gehen, in der „bewegte Bilder“ die Gesellschaft tatsächlich bewegten. Während des ersten richtigen Kinobooms – 1905 gab es in Berlin 16 Kinos, zwei Jahre später schon 140 – wurde das Haus von Alfred Topp als „Theater Topp“ gegründet, woraus der Berliner Volksmund den Begriff „Kintopp“ prägte. Einzigartig war der sogenannte „Spiegelsaal“: Da die Kinoräume in beiden Schenkeln eines Eckhauses liegen, installierte Topp hinter der Leinwand des Hauptsaals eine Spiegelkonstruktion, mit deren Hilfe der projizierte Film auch auf der anderen Seite der Leinwand gesehen werden konnte, etwas lichtschwächer als vorne, aber dafür auch billiger. Später wurde dieser Saal um eine kleine Bühne erweitert, auf der Mitte der 1970er-Jahre die ersten schwul-lesbischen Theatergruppen auftraten. 1975 erfolgte, nach Versuchen mit Kung Fu- und Seeräuberfilmen, die Umwandlung zum „kritischen Volksfilmtheater“, wie sich Elser Maxwell erinnert. Damit begann die Geschichte eines Aufbruchs, eines „Paradieses, das wie immer am Hungertuch nagte“, so der heutige „Panorama“-Chef Wieland Speck. Zwischen Politkino – zum festen Repertoire gehörten Anti-AKW-Filme, das Programm wurde im anarchistischen „BUG-Info“ veröffentlicht – und Subkultur – von „Homo“ bis zum New Yorker Undergroundidol George Kuchar – verfolgte jeder Programmmacher eigene ästhetische Vorstellungen und politische Ideale. Ein Forum für die künstlerische Avantgarde? „Die Arroganz war ganz auf unserer Seite, weil wir glaubten, dass das, was wir machen, die Zukunft ist, und das, was die anderen machen, die Vergangenheit“, gibt Speck zu bedenken und spricht damit einen typischen Charakterzug der Westberliner Szene jener Jahre an. Doch der Szene-Treffpunkt etablierte sich schnell zur Parallelgesellschaft mit kultureller Deutungshoheit: Rio Reisers Band „Ton, Steine, Scherben“, damals Stammgast, gehört heute genauso zum kulturellen Erbe wie die „Genialen Dilletanten“ um Blixa Bargeld, der vor seiner Karriere als „Einstürzende Neubauten“-Frontmann im Moviemento an der Kasse saß. „The Rocky Horror Picture Show“ (fd 20 807) wurde am Kottbuser Damm zum dreijährigen Dauerrenner, später gefolgt von Dani Levys Kreuzbergfilm „Du mich auch“ (fd 25 837). Erfolge, die irgendwann in eine Schieflage gerieten: Die „Rocky Horror“-Vorstellungen verkamen zu kollektiven Saufgelagen, das Kreuzberger Lebensgefühl wurde zum Klischee. Sobolla zeigt einen Ort, an dem bis heute kreative Winde wehen; er spart die Flauten aber nicht aus. So wird die Geschichte eines Kinos zum kulturgeschichtlichen Porträt, zum Protokoll des „Trial-and-Error“-Verfahrens, mit dem aus der Subkultur heraus gesellschaftliche Profile verändert werden. Dabei verlässt sich der Hörfunkmann Sobolla vor allem auf eine Sammlung von Talking Heads. Ein in der Filmkunstszene verpöntes publizistisches Konzept, das von den Spannungsbögen der O-Töne lebt. Als facettenreiche „oral history“ lässt seine Dokumentation jedoch die sepiafarbenen Versuche hinter sich, mit denen alte Projektoren und vergilbte Filmplakate allzu oft zu sentimentalen Klischees über Kinogeschichte metaphorisiert wurden. Sobollas Film findet nüchtern und präzise zur Seele zurück, mit der ein Kino erst zum Kino wird, und verdichtet die Materialsammlung zu einer pointierten Rückschau auf ein Stück Westberliner Kulturgeschichte.
Kommentar verfassen

Kommentieren