Schnupfen im Kopf

Dokumentarfilm | Deutschland/Ungarn 2010 | 92 Minuten

Regie: Gamma Bak

Dokumentarfilm, in dem sich die Filmemacherin Gamma Bak mit ihrer eigenen psychischen Erkrankung auseinander setzt. Er montiert achronologisch, über mehrere Jahre hin protokollierte Selbtsaussagen der Regisseurin, Gespräche mit Menschen und auch Ausschnitte aus Filmen, die vor Ausbruch der Krankheit entstanden, mit schonungslos offenen Bildern zu einem beeindruckenden Dokument ihrer psychotischen Störung, wobei die Inszenierung gänzlich unlarmoyant Einblicke in ein oft tabuisiertes Thema gewährt. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Ungarn
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Gamma Bak Filmprod./Digipost
Regie
Gamma Bak
Buch
Gamma Bak · Cornelia Klauss · Gina Kovacs
Kamera
Dieter Vervuurt · Ulrike Solbrig · Volker Langhoff · Christopher Rowe · Nyika Jancsó
Musik
Arnold Dreyblatt · Sean Scruff Newton · Félix Lajkó
Schnitt
Szilvia Ruszev
Länge
92 Minuten
Kinostart
04.11.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (FF, DD2.0 dt. & ungar. & engl.)
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Diskussion
Abilify, Akineton Retard, Atosil, Bifiteral Sirup, Cephalaxin, Diazepam, Fluanxol, Haldol. So fängt der Abspann an; und Psychopharmaka sind gewissermaßen auch die Hauptdarsteller in Gamma Baks Dokumentarfilm „Schnupfen im Kopf“. Auf die lange Liste der „Medikamente der letzten 14 Jahre“ folgt eine lange Liste der Psychiater und Neurologen. Sie haben die Regisseurin seit 1995 behandelt. Damals erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, ein erster psychotischen Schub, ihre erste „Krise“, wie sie sagt. Zu Beginn fasst der Vater der Regisseurin zusammen, wie sie ihm ihr Projekt beschrieben habe: Ein tapferes, risikoreiches Unterfangen sei es, denn sie würde sich öffentlich als verrückt darstellen. „Als eine Geisteskranke“, sagt der Vater sehr deutlich und blickt dabei direkt in die Kamera. Es geht im Folgenden auch um die bewegte Familiengeschichte der Regisseurin. „Schnupfen im Kopf“ ist ein radikales, schonungslos-autobiografisches Selbstporträt, eine Art essayistisches Tagebuch; weniger eine Selbstanalyse als eine Sammlung genauer Zustandsbeschreibungen im Rahmen einer Langzeitbeobachtung. Gamma Bak versucht nicht zu erklären, was ihr passiert ist. Sie versucht es zu fassen, aufzuarbeiten im wortwörtlichen Sinne. Die analytisch-distanzierte Haltung, die sie dabei sich selbst gegenüber einnimmt, wirkt wie eine Form der Selbstvergewisserung und drückt vielleicht auch die Sehnsucht nach Mündigkeit, nach vollwertiger Re-Assimilation und Anerkennung aus. Denn Entmündigung, oder zumindest das Gefühl der Machtlosigkeit und Schuld, das wird hier sehr deutlich, ist jeder psychischen Erkrankung zu eigen. Die Form, die Gamma Bak wählt, ist assoziativer, elliptischer als das, was sie und ihre Freunde und Verwandten, die sie auf ihrem Weg durch die Krankheit begleitet haben, im Bemühen um Exaktheit in die Kamera erzählen. 2002 beginnen die Aufnahmen zu „Schnupfen im Kopf“, sie reichen bis ins Jahr 2009. Die Regisseurin springt zwischen den Jahren, sie erzählt nicht chronologisch. Neben (Selbst-)Interviews und Gesprächen zeigt sie auch Szenen aus ihren Filmen, die sie vor Ausbruch der Krankheit gedreht hat, darunter etwa ein inszeniertes Videotagebuch. Darin sitzt sie, 28-jährig, an ihrem Küchentisch, vor wild übereinander gestapelte Papiere und sagt: „Man kann doch nicht aus dem eigenen Leben eine Materialsammlung machen.“ Es sei essenziell, die Frühwarnzeichen zu erkennen, wenn eine Psychose sich ankündigt. Es habe Jahre gedauert, erklärt die Regisseurin, diese Fertigkeit zu erlernen, mit dem Nebeneffekt, dass sie wie ihre Umwelt ständig zweifelt: Ist das jetzt schon eine Psychose oder noch normal? Zwischen die Interviews sind assoziative Bilder geschaltet; der Filmemacherin werden die Fingernägel geschnitten. Erst später erfährt man, dass dies eine der wenigen Erinnerungen ist, die sie an einen Aufenthalt in einer geschlossenen Abteilung hat. Es sind Koffer zu sehen, in denen sich Fotografien stapeln, die Kindheit der Regisseurin, stapelt. Die Kamera fährt Gamma Baks liegenden Körper ab, von den Füßen bis zum Gesicht: ein Akt mit Medikamenten; Psychopharmaka schwemmen auf. Es ist ein schonungsloses Bild, aber auch heilsam. Ohne jede Lamoryanz, ohne jede Geheimnistuerei, auch ohne offene Kritik am System eröffnet „Schnupfen im Kopf“ dem Zuschauer einen Zugang zu einer tabuisierten Welt. Gamma Bak beklagt sich nicht. In diesem Zusammenhang wirkt ein Satz ungeschminkt brutal: „Ich hätte Kinder haben können anstatt Nervenzusammenbrüche. Oder ich hätte mehr Filme machen können.“
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