Once Upon a Time in Anatolia

Road Movie | Türkei/Bosnien-Herzegowina 2011 | 163 Minuten

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Eine Gruppe von Männern, Polizisten, Soldaten, zwei Mordverdächtige und ein Gerichtsarzt, fährt durch die ostanatolische Steppe und sucht eine Leiche. In ihren Gesprächen geht es um Bräuche und Sitten, das Verhältnis von Stadt und Land, Bildung und Moderne, aber auch um Fragen nach Schuld und Sühne, wobei der Tod allgegenwärtig ist. Ein warmherziges Road Movie durch die türkische Provinz, das, entlarvend und menschlich zugleich, von seiner Situationskomik lebt. Handwerklich und stilistisch nahezu perfekt, entwirft das existenzielle Meisterwerk ein facettenreiches Bild der türkischen Gesellschaft und ihrer Probleme. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BIR ZAMANLAR ANADOLU'DA
Produktionsland
Türkei/Bosnien-Herzegowina
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Zeyno Film/Production 2006 D.O.O./Fida Film/Imaj/TRT/NBC Film
Regie
Nuri Bilge Ceylan
Buch
Ebru Ceylan · Nuri Bilge Ceylan · Ercan Kesal
Kamera
Gökhan Tiryaki
Schnitt
Nuri Bilge Ceylan · Bora Göksingöl
Darsteller
Mumammet Uzuner (Doktor Kemal) · Yilmaz Erdogan (Kommissar Naci) · Taner Birsel (Ankläger Nusret) · Ahmet Mümtaz Taylan (Fahrer Ali) · Firat Tanış (Verdächtiger Kenan)
Länge
163 Minuten
Kinostart
19.01.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Road Movie
Externe Links
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Diskussion
Man stelle sich eine Kreuzung aus einer „CSI“-Folge und einem Tschechow-Stück vor – dieser absurde Gedanke vermittelt eine Ahnung von dem Eindruck, den „Once Upon a Time in Anatolia“ hinterlässt. Der Film ist ein Krimi, in dem Polizisten und ein Gerichtsarzt in einem Mordfall ermitteln und der Mörder am Ende überführt wird; er verbindet Elemente des Road Movies mit einem Porträt des türkischen Provinzlebens und der Generation der 40- bis 50-jährigen, vor allem männlichen Türken; er ist eine Groteske voller Witz, entlarvend und menschlich zugleich, die immer wieder von ihrer Situationskomik lebt, ein zutiefst humaner, warmherziger Film. Am Ende ist alles vielleicht nur ein Märchen, auch eingedenk des Titels, der zugleich eine augenzwinkernde Western-Anspielung ist. Der Film spielt an einem einzigen Tag und kreist um ein Team von Ermittlern, die mit zwei Mordverdächtigen, Bewachern und Fahrern in drei Autos von der Provinzstadt Kirikkale in eine karge Berglandschaft aufbrechen, um eine in der Nähe eines Brunnens verscharrte Leiche zu bergen. Da sich Landschaft und die am Straßenrand errichteten öffentlichen Brunnen gleichen, fährt die Gruppe ergebnislos von Ort zu Ort, bis am nächsten Tag die Leiche gefunden und nach Kirikkale gebracht wird. Ihr Weg wird durch eine längere Rast bei einer gastfreundlichen Bauernfamilie am frühen Morgen unterbrochen, bei der die Männer speisen und kurz Schaf finden, während der Strom ausfällt; vor allem wird er begleitet von zahlreichen Gesprächen, in denen sich die jeweilige Lebenslage und der Charakter der Personen sowie die soziale Dynamik der Gruppe entfalten. In deren Zentrum stehen fünf Protagonisten: Doktor Cemal, der aus der Stadt an diesen für ihn fremden Ort kam und überlegt, ob er bleiben soll; der ermittelnde Staatsanwalt Nusret, der den Tod seiner Frau bedauert; Naci, Chef des Polizeikommissariats, der einen chronisch kranken Sohn hat; Ali, einer der Fahrer, der sich als Araber auch nach Jahren noch fremd fühlt; schließlich Keskin, der Mordverdächtige. Ihre Gespräche drehen sich um scheinbar banale Dinge wie lokale Spezialitäten und Bräuche, um die Arbeit, berufliche Hierarchien und bürokratische Hindernisse, um Persönliches wie um grundsätzliche Fragen, das Verhältnis zwischen Stadt und Land, den Charakter der türkischen Gesellschaft, die Bedeutung von Bildung, Fragen von Schuld und Sühne. Der Tod ist allgegenwärtig; in den Gesprächen wie in der Handlung, denn es soll ja eine Leiche gefunden werden. Als das geschieht, muss sie geborgen und der Fundort kriminaltechnisch gesichert werden – wobei Grundsätzliches wie die Achtung vor dem Toten und Banales wie das Gewicht einer Leiche und die schiere Problematik, sie ohne Leichenwagen zu transportieren, eng beieinander liegen. Werte und Sichtweisen der Personen kreuzen sich. Manche Themen tauchen mehrfach auf; auch das, was fehlt, ist bezeichnend: etwa religiöse Fragen, die auch in der Türkei erhitzten Frontlinien diverser Islam-Debatten. Der Thematik entspricht die visuelle Haltung. Es sind puristische Bilder, in denen das Atmosphärische überwiegt, aber Vielfalt zugelassen wird. In den vielen Nachtszenen dominiert die Farbe Schwarz in ungeahnten Nuancen. Man muss genau hinsehen, sich einfühlen in Stimmungen und Rhythmen, dann zeigen sie viel. Immer wieder folgen auf Landschaftstotalen Nahaufnahmen der Gesichter. Auch in ihnen kann man vieles lesen, wenn man verweilt. Nuri Bilge Ceylan ist ein existenzialistisches Drama und ein Meisterwerk europäischen Autorenkinos gelungen – seine beste Arbeit bislang. Seit mehr als zehn Jahren gehört Ceylan zu den wichtigsten Autorenfilmern seiner Generation und beweist hier erneut, dass er auf einzigartige, handwerklich und stilistisch nahezu perfekte Art erzählt und ästhetisch weiterhin innovativ bleibt; dabei ist er Vorbildern im klassischen europäischen Autorenkino verpflichtet – er selbst beruft sich auf Bresson und die Neorealisten, aber auch auf den Einfluss der klassischen europäischen Literatur. Sein Film entspricht einigen Haupttendenzen des türkischen Autorenkinos und entwickelt diese zugleich weiter. Wie immer bei Ceylan stehen Männer im Zentrum, aber sie sind nicht mehr nur störrisch-kalte, latent sadistische Schweiger: Sie sind aufgetaut, können sich artikulieren, wirken weich. Seine Türkei ist immer noch ein weites Land, plötzlich aber ist es von Menschen bevölkert. Die hier gezeigte türkische Identität ist zerrissener und widersprüchlicher denn je. Im Arzt Cemal findet man einen rationalen Zweifler, doch die „bodenständigeren“ Nusret, Naci und Ali sind auf ihre Art nicht weniger entfremdet und grübelnd, zugleich von einer alltäglichen liberalen Menschlichkeit und Toleranz, die unmittelbar einnimmt.
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