Das Turiner Pferd

Drama | Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2011 | 150 Minuten

Regie: Béla Tarr

Ein alter Kutscher und seine Tochter gehen mechanisch und nahezu wortlos ihrem ereignisarmen Tagewerk nach, während um ihr Haus ein lärmender Wind tobt. Nach sechs langen Tagen versiegt das Leben spendende Brunnenwasser, erlöschen das Feuer im Herd und das Licht der Lampe: Die Welt kommt an ihr Ende. Eine intensive, bildgewaltige Umkehrung der Schöpfungsgeschichte voller Rätsel und Unerklärtem. Meisterhaft komponiert der Film suggestive Bilder von betörender Schönheit sowie geradezu schmerzender Archaik und regt dazu an, hinter dem dunklen Nichts und dem unbehausten Dasein eines zur Einsamkeit im Nichts verurteilten Menschen nach Sinn und Perspektiven zu fragen. Ein ebenso anstrengender wie faszinierender filmischer Kraftakt, der in seiner atemberaubend rauen Poesie voller Sinnbilder und Metaphern herausfordert. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
A TORINÓI LÓ
Produktionsland
Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
TT Filmmûhely/Vega Film/Zero Fiction Film/Movie Partners in Motion
Regie
Béla Tarr
Buch
László Krasznahorkai · Béla Tarr
Kamera
Fred Kelemen
Musik
Mihály Vig
Schnitt
Ágnes Hranitzky
Darsteller
János Derzsi (Ohlsdorfer) · Erika Bók (Ohlsdorfers Tochter) · Mihály Kormos (Bernhard)
Länge
150 Minuten
Kinostart
15.03.2012
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Unentwegt tost der Wind. Selbst im Innern des armseligen Kutscherhauses in einer abgelegenen Ödnis hat man keine Ruhe vor diesem heftigen, lärmenden, auf Dauer quälenden Geräusch. Sechs Tage lang rauscht und bläst es, sechs lange Tage, in denen ein Fuhrmann und seine erwachsene Tochter mechanisch und nahezu wortlos ihrem ereignisarmen Tagewerk nachgehen, das Pferd versorgen, ihr karges Mahl zubereiten, essen, sich an- und auskleiden, schlafen und immer von Neuem weiter machen. Doch nun geht es nicht mehr weiter. Am sechsten Tag ist Schluss. Mit allem. Etwas Grundsätzliches, Existenzielles hört auf. Das Pferd des wortkargen Kutschers und seiner nicht minder stillen, ihm ohne jedes Widerwort dienenden Tochter ahnt dies weit früher als die stoisch dem Daseinsritual folgenden Menschen: Eine Träne im Auge, verweigert ihnen das Tier den Dienst, stellt jede Bewegung, jede Nahrungsaufnahme ein. Auch das Leben spendende Brunnenwasser versiegt; das Feuer im Herd erlischt. Wenn am Anfang allen Lebens das Licht war, dann steuert der Film konsequent seinem Finale zu: Am Ende ist kein Licht. Am Abend des fünften Tags, als das Licht der Öllampe und die Flamme im Ofen erlöschen und der menschliche Atem die erkaltende Glut nicht mehr auflodern lässt, als es dunkel und still wird und alles verstummt, da fragt die Tochter des Kutschers: „Was bedeutet das alles?“ Worauf der alte, stoische Mann ihr emotions-, ja geradezu teilnahmslos antwortet: „Ich weiß es nicht. Lass uns ins Bett gehen.“ Dieser schlichte Wortwechsel umreißt das im Grunde unlösbare, ebenso beunruhigende wie herausfordernde Spannungsverhältnis zwischen drängender Erkenntnissuche und fatalistischem Einrichten in den Gegebenheiten – und es hat durchaus auch mit der Situation des Zuschauers zu tun, der sich zweieinhalb Stunden lang diesem rätselhaften, rigorosen und (im guten Sinn) rücksichtslosen filmischen Monolith ausgesetzt sieht, für dessen Rezeption große Konzentration, aber auch physische Kraft von Nöten sind, wobei man nicht vorschnell fragen darf: „Was bedeutet das alles?“ Solches Nicht-Fragen ist schwer geworden in Zeiten der visuellen Bilderflut, die alles sichtbar macht und suggeriert, dass damit auch alles erklärbar sei. Der ungarische Regisseur Béla Tarr (Jahrgang 1955) braucht für seinen erklärtermaßen letzten Film hingegen nur 29 Kameraeinstellungen, von denen die meisten so lange dauern, dass man mitunter meint, eine perfekt auskomponierte Fotografie zu betrachten, so dass schon die kleinste Bewegung ausreicht, um in Aufruhr zu versetzen. Wer das erste Mal in Tarrs filmischen Kosmos eintaucht, sollte sich auf ein hartes Stück Arbeit einstellen – ohne sich davon jedoch entmutigen zu lassen! Kein beiläufiges Detail wird hier eine „Auflösung“ oder gar Erlösung bescheren, vielmehr muss man „Das Turiner Pferd“ (wie alle Filme Bela Tarrs) in seiner Gesamtheit atmen und klingen lassen – einfach „nur“ schauen und nachempfinden, was das Unerklärte und Unausgesprochene mit einem anrichtet. Wer sich von der suggestiven Kraft der schwarz-weißen Bilder, der formalen Strenge der Erzählung und dem weit ausschwingenden Rhythmus tragen lässt, der wird sich bereichert fühlen und „das Ende“ womöglich gar nicht mehr als bedrohlich ansehen. Auf die Konfrontation mit „letzten Dingen“ haben in jüngster Zeit die kosmischen Entwürfe von Terrence Malick („The Tree of Life“, fd 40 488) und Lars von Trier („Melancholia“, fd 40 662) eingestimmt. Während „The Tree of Life“ noch mit dem leidenden Individuum sympathisierte und sich damit tröstete, dass der Mensch im „großen Ganzen“ aufgehoben sei, suchte von Trier sein Heil in der Auslöschung der Welt. Bela Tarr hingegen erstrebt im Prinzip gar nichts (mehr), er registriert lediglich, konstatiert – und lässt es dunkel werden. Sein Film ist die Konsequenz eines auf das Notwendigste reduzierten Minimalismus, der allein durch seine visuelle Archaik vor jeder Banalität bewahrt wird. Die betörende Fotografie erschafft ihr eigenes Universum abseits platter Erklärungsmuster, sie ist konkret und zugleich visionär, voller Sinnbilder und absoluter Metaphern. Alle Filme von Tarr verströmten immer schon ihre ganz spezifische Endzeitstimmung, die sich wie eine Patina über den Menschen und ihrem Verhalten ausbreitete. In einer mitunter kafkaesk anmutenden Welt waren Unordnung und Chaos Teile der bestehenden Ordnung, innerhalb derer die Menschen seltsam gelähmt schienen, ihres selbstbestimmten Handelns beraubt, belastet von etwas Schwerem auf ihrer Seele. Bereits das siebeneinhalbstündige Epos „Satanstango“ (fd 30 808) – in dem es durchgängig so heftig regnete wie jetzt in „Das Turiner Pferd“ der Wind pfeift – gerann zur apokalyptischen Parabel über den Niedergang der Menschheit, die aus der Mitte der Schöpfung in die Bedeutungslosigkeit zurückzufallen droht. Genau diese Drohung tritt nun ein: In „Das Turiner Pferd“ hört es auf, am sechsten Tag der „Handlung“, quasi als dystopische Umkehrung der Schöpfungsgeschichte. Wobei es unwichtig zu sein scheint, ob die Welt „aufhört“ oder ob die Menschen zu denken und handeln aufhören. Oder ob beides eng miteinander verbunden ist. Der Film leitet mit einer knappen Erzählung dessen ein, was Friedrich Nietzsche am 3.1.1889 in Turin geschehen sein soll, als er Empathie für ein gefoltertes Pferd zeigte, ehe er seinen Verstand verlor und zum milden Irren wurde. Lakonisch vermerkt der Off-Erzähler: „Was aus dem Pferd wurde, wissen wir nicht.“ Wie wir im Grund überhaupt nichts wissen, zumindest unseres Wissens nie sicher sein können. Vielleicht tut sich gerade in der finalen Dunkelheit ein neuer, noch gänzlich unentdeckter, unerschlossener Raum auf, der ausschließlich von der Zeit als dem „wahren“ Bezugssystem geprägt ist, in dem nicht mehr zwischen Ende und Anfang, Licht und Dunkelheit getrennt wird. Und vielleicht hat Béla Tarr ja gar nicht die Hoffnung aufgegeben, sondern ist sein immer tieferer Blick nach innen jetzt erst „irgendwo“ angekommen. „Das ist die Hoffnung von Béla Tarr, dass er am Ende, ganz tief unten in uns, etwas finden kann“, mutmaßte schon der Schriftsteller László Krasznahorkai.
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