Der Fall Chodorkowski

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 116 Minuten

Regie: Cyril Tuschi

Der russische Unternehmer Michail Chodorkowski stieg in den 1990er-Jahren zum Oligarchen auf, bis er 2003 verhaftet und wegen Steuerhinterziehung und Betrug verurteilt wurde. Der ästhetisch anspruchsvolle Dokumentarfilm macht die damit verbundenen komplexen Sachverhalte ausgewogen und überzeugend nachvollziehbar. Er zeigt den Prozess als politisch verschleiert und macht zugleich auf Demokratie-Defizite, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Korruption in Russland aufmerksam. Kritisch wird Chodorkowski als jemand beleuchtet, der das derzeitige wirtschaftliche und politische System mit aufgebaut und davon profitiert hat, dabei aber auch das Opfer von Rechtsbeugung und Willkür wurde. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Lala Films/LE Vision/BR
Regie
Cyril Tuschi
Buch
Cyril Tuschi
Kamera
Peter Dörfler · Franz Koch · Eugen Schlegel · Cyril Tuschi
Schnitt
Salome Machaidze · Cyril Tuschi
Länge
116 Minuten
Kinostart
17.11.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Ein langer Kameraschwenk auf eine Winterlandschaft, ein schönes, ruhiges Bild, gibt die Haltung vor: Regisseur Cyril Tuschi erzählt mit gebotener Ausführlichkeit; ihm ist daran gelegen, diesen Dokumentarfilm ästhetisch über das bloß Illustrative hinauszuheben, ihm etwa durch die Musik von Arvo Pärt und kurze Animationssequenzen Stil und Rhythmus zu geben – nicht leicht bei einem Werk, das von komplexen Fakten handelt und in dem viele Menschen ausführlich zu Wort kommen. Er handelt von einem der spektakulärsten Rechtsfälle und Wirtschaftskrimis der letzten Dekade: dem Aufstieg und Fall von Michail Chodorkowski. In den 1990er-Jahren war er einer der jungen aufstrebenden Kapitalisten, die mit staatlicher Unterstützung zu berüchtigten „Oligarchen“ wurden. Irgendwann war der 1963 Geborene Chef des Öl-Magnaten „Yukos“ und „der reichste Mann der Welt unter 40“. Er zeigte politische Ambitionen, provozierte den seit 2000 amtierenden Vladimir Putin. Doch im Oktober 2003 wurde er verhaftet. Seitdem sitzt Chodorkowski in Haft, mindestens bis 2016. Mehrfach hatte man ihn zuvor gewarnt, ihm Gelegenheit gegeben, außer Landes zu flüchten, sogar große Teile seines auf mehr als 15 Mrd. geschätzten Vermögens zu retten – nun wurde ihm ein politischer Prozess gemacht. Es ging seinen Angreifern nicht darum, ihn zu ruinieren, sondern ihn als Herausforderer der Macht kaltzustellen und ein Exempel zu vollziehen: „Wer mit einem Wolfsrudel fertig werden will“, erklärt eine Aktivistin, „muss nur einen töten: den schnellsten, schönsten und klügsten.“ Ohne es offen auszusprechen, lässt Tuschi keine Zweifel aufkommen, wo diese Angreifer zu suchen sind: im Kreml um Vladimir Putin. Zugleich zeigt er, dass auch Chodorkowski kein Unschuldslamm war, sondern ein harter Manchester-Kapitalist, dessen Karriere sogar von „nützlichen Todesfällen“ begleitet war. Hier wird Tuschi einmal offen parteiisch, weil die Vorwürfe des Auftragsmords zu kurz zur Sprache kommen, bevor Freunde versichern, man dürfe das nicht glauben. „Unsere Standards waren die der Gesellschaft, in der wir lebten“, beschreibt Chodorkowski selbst seine frühere Haltung. So bietet der Film auch eine tiefgründige und facettenreiche Innenansicht in „das korrupte Imperium“ (Kerstin Holm), das aus der Konkursmasse der UdSSR seit 1991 entstanden ist. Das größte Rätsel bleibt dabei Chodorkowskis Persönlichkeit: reserviert, schüchtern, intelligent, mit der Aura eines Mannes, bei dem man, „wenn er den Raum betrat, sofort wusste: Das ist der Boss“. Bis heute provoziert er seine Feinde vor allem durch Furchtlosigkeit. Statt sich freizukaufen, zog er die Rolle des Märtyrers vor. Warum? Die Vermutungen reichen von persönlichem Sühnebedürfnis bis zu politischem Kalkül, um eines Tages in Russland die Macht zu übernehmen. Einstweilen ist er für den russischen „Mann auf der Straße“ nur „der Typ, der Russland viel Geld gestohlen hat“. Oder handelt es sich gar um einen narzisstischen Erlöserkomplex? Tuschi zitiert aus seinem Briefwechsel mit Chodorkowski, in dem dieser versichert: „Ich werde nicht der Graf von Monte Christo werden.“ Später kam es am Rand des symbolischen zweiten Prozesses zum ersten Interview, das Chodorkowski nach seiner Inhaftierung einer Kamera geben konnte. Doch auch dies klärt das schillernde Bild nicht auf. Fünf Jahre hat Tuschi an „Der Fall Chodorkowski“ gearbeitet. Das Ergebnis ist ein engagierter und insgesamt sachlicher Dokumentarfilm, der zugleich Politthriller ist. Tuschi rekonstruiert die Biografie Chodorkowskis, spricht mit Verwandten, Studienkollegen, Mitarbeitern und Freunden – die oft im Exil leben. Besonders ertragreich ist das Gespräch mit Leonid Nevzlin, einst rechte Hand Chodorkowskis, der sich selbst nur mit Mühe dem langen Arm von Putin entziehen konnte. Auch Joschka Fischer kommt mehrfach zu Wort und hebt sich dabei wohltuend von seinem früheren Kanzler Gerhard Schröder ab, indem er deutlich macht, wie vordemokratisch die Verhältnisse in Russland immer noch sind. Tuschi selbst hält sich dezent im Hintergrund und vermeidet die Sünde des „Michael-Moore-Style“, bei der die Figur des Dokumentaristen das, was dokumentiert wird, oft genug in den Hintergrund drängt. Dafür erhält man Einblick in das Leben russischer Superreicher. Warum sollte man Mitleid mit einem Oligarchen haben? Tuschi macht klar, dass es darum nicht geht, und auch nicht um Schuld oder Unschuld. Chodorkowski ist kein Opfer, im Gegenteil ist das System, in dessen Machtspielen er sich verfangen hat, von ihm selbst mitgeschaffen worden. Es geht allerdings um fehlende Rechtsstaatlichkeit und darum, Rechtsbeugung und Willkür ebenso beim Namen zu nennen wie Verbrechen und Korruption der Regierenden in Moskau. Das ändert nichts daran, dass man geneigt ist, Joschka Fischer recht zu geben, wenn er zu Tuschi gegen Ende sagt: „Die Welt ist nicht so, wie Sie sie sich vorstellen.“
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