Dokumentarfilm | Deutschland/Argentinien 2011 | 103 Minuten

Regie: Thomas Heise

In den Bergen im Nordosten Argentiniens leben die Kollas, eine indigene Gemeinschaft, deren archaische Kultur in der Moderne aufzugehen droht. Der nahezu wortlose Dokumentarfilm nähert sich ihrer Lebensweise durch eine Fülle geduldiger Alltagsbeobachtungen, wobei das bäuerliche Dasein auch in Bezug zur Erhabenheit der Gebirgslandschaft gesetzt wird. Ein ebenso bildgewaltiger wie demütiger Film, der sinnlich und unmittelbar Anteil am Leben der Indios nimmt und ihre Welt mit Neugier und Respekt porträtiert. Erst in der fulminanten Schlusssequenz wird die dialektische Absicht erkennbar, das Verschwinden der Ursprünglichkeit zu protokollieren. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Argentinien
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Thomas Heise
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Robert Nickolaus · Jutta Tränkle · René Frölke
Schnitt
Trevor Hall
Länge
103 Minuten
Kinostart
03.11.2011
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Im Kino darf bekanntlich geträumt werden, meistens mit und entlang den Filmen, bisweilen aber auch auf Nebengleisen oder im Extrem sogar gegen sie. In „Sonnensystem“ von Thomas Heise drängt sich irgendwann die Frage auf, was wohl passiert wäre, wenn Christoph Kolumbus vor seiner Fahrt mit der „Santa Maria“ diesen Film gesehen hätte? Denn ein halbes Jahrtausend nach den Conquistadoren ahmt Heise in gewissem Sinne ihre Bewegung nach und „entdeckt“ die indigene Bevölkerung des lateinamerikanischen Kontinents. Allerdings „nur“ mit der Kamera und im Auftrag des Goethe-Instituts, aber zumindest unter einer gemeinsamen Prämisse: ohne Kenntnis der indigenen Sprache oder Kultur. Das Resultat seiner dokumentarischen „Er-fahrung“ macht Schweigen: ein grandioser, ebenso bildgewaltiger wie demütiger Film, der vom scheinbar unausweichlichen Verschwinden einer ursprünglichen Lebensweise erzählt, ohne je larmoyant zu werden oder in andere eurozentrische Klischees zu verfallen. „Sonnensystem“ beginnt wie Malicks „The Tree of Life“ (fd 40 488), allerdings bar jeden (kinematografische) Bombasts: mit einer schweigenden „creatio ex nihilo“, einem stillen Sonnenaufgang. Dem folgen konzentrierte Bilder einer urwüchsigen Gebirgslandschaft, kahler Berge, eines majestätischen Himmels, von Regen und Gewitter. Erst nach einer kleiner Ewigkeit sind Menschen zu sehen, die Beine eines Mannes, der in einem Lehmhaufen herumstapft. Dass es sich hierbei um einen Angehörigen der Kollas aus Tinkunaku im Nordosten Argentiniens handelt, muss, sofern man das wissen will, aus den Begleitmaterialien des Films erschlossen werden. Dort ist auch der Name des Bauern Viviano verzeichnet, der geduldig und mit Hingabe Leder weich klopft, aus dem in tage- oder wochenlanger Arbeit ein Sattel entsteht. Auf der Leinwand sieht man primär seine Hände, wie sie das zähe Material kneten, kraftvoll und ausdauernd; später erlebt man, wie ein Stier geschlachtet und zerlegt wird; am Ende bleibt nur die blutige Haut auf dem Boden übrig: die Ausgangsbasis für Vivianos Handwerk. Was er denkt, wie er lebt oder wie es ihm geht, selbst sein Aussehen bleiben außen vor; dafür nimmt man umso intensiver an der materiell-ästhetischen Bearbeitung des Stoffes und der damit verbundenen Energie und Konzentration teil. Es sind lauter solche sorgsam kadrierten, mit offensichtlicher Hingabe fotografierten Details, aus denen sich die „Narration“ dieses in seiner Reduktion so sprechenden Films speist. Er liefert eine enorme Fülle sinnlicher Alltagsbeobachtungen, die zwar „erzählerisch“ strukturiert und chronologisch in „Winter“ und „Sommer“ geordnet sind, aber keinerlei „Porträt“ anzielen oder auf medial formatierte „Information“ aus sind. Stattdessen partizipiert man in dem nahezu wortlosen Film, dessen wenige Dialoge überdies nicht untertitelt werden, an einem Dasein, dessen kulturelle Signaturen fremd bleiben. Aber in einem universalen Rahmen, innerhalb des titelgebenden Sonnensystems, „versteht“ man sie durchaus: die Mühe des Daseins, wenn Mais mit der Hand gemahlen wird, das Aufeinander-Angewiesen-Sein, wenn ein umgestürzter Traktor mit vereinten Kräften wieder aufgerichtet wird, der Schutz der Rituale im Gebet in der Kirche oder beim karnevalesken Treiben, die Spur der Mythen und Erzählungen, wenn ein Junge die Figur eines Menschen in den Lehm ritzt. Bei genauerer Exegese (oder durch entsprechende außerfilmische Kenntnisse) lässt sich zwar durchaus erkennen, dass die Kollas in zwei Orten leben, einem an die Gegenwart angeschlossenen, elektrifizierten und mit großen (Schul-)Gebäuden bestückten Dorf am Fuße der Berge, das im Sommer jedoch zugunsten einer auf dreieinhalbtausend Meter gelegenen Siedlung verlassen wird, in der von den „Segnungen“ der Moderne nicht mehr viel zu spüren ist. Die Schönheit und mitunter auch grandiose Erhabenheit der filmischen Totalen speist sich aus dieser Region, ohne dass dies der Film romantisieren würde, weil er durch seine „materialisitsche“ Grundorientierung an eine nüchterne, fast kreatürliche Anteilnahme zurückgebunden bleibt. Erst in der exponierten Schlusssequenz durchkreuzt Heise seinen ethnografisch strengen, sensualistischen Ansatz, indem er in einer fulminanten Kamerafahrt die Landflucht der Kollas und ihre Konsequenzen filmisch übersetzt: durch ein minutenlanges Travelling entlang der Straße in Buenos Aires, die im großen Bogen um ein wild wuchernde Siedlung zum Hauptbahnhof führt. Die archaische Leere numinoser Bergregionen und der in sie eingebetteten Lebenszusammenhänge weicht, unterlegt mit einer „Lacrymosa“-Version von Dmitri Yanov-Yanovsky, dem Kehricht-Chaos des Elends und mündet – filmisch genial – in der Schwärze des Nichts. Erst durch diesen dramaturgisch cleveren Bruch wird „Sonnensystem“ zu dem von Heise apostrophierten „Film über das Verschwinden“, ohne dass daraus freilich wohlfeile Thesen abgeleitet werden könnte. Obwohl „Sonnensystem“ sich denkbar weit von seine bisherigen Arbeiten abhebt, bleibt die Haltung Heises dieselbe: die eines dialektisch denkenden (oder zumindest geschulten) Chronisten.
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