Road Movie | Bulgarien 2011 | 86 Minuten

Regie: Konstantin Bojanov

Ein Kunststudent reist per Anhalter zum Begräbnis eines Freundes, wobei er die unerwünschte Begleitung einer jungen, irritierend aufdringlichen Frau bekommt, die vorgeblich dasselbe Reiseziel hat und die Autofahrer mit erfundenen Geschichten unterhält. Während der Reise werden die ungleichen Gefährten ein Paar. Ein außergewöhnliches Road Movie, das mit ausgeklügelter Farbdramaturgie die ebenso bizarre wie zärtliche Geschichte zweier aus dem Alltag gefallener Menschen erzählt, die auf der Flucht vor sich und ihrem Schicksal in einem Land sind, das keine Zukunft zu bieten hat. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AVÉ
Produktionsland
Bulgarien
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Camera/KB Films
Regie
Konstantin Bojanov
Buch
Arnold Barkus · Konstantin Bojanov
Kamera
Nenad Boroevich · Radoslav Gochev
Musik
Tom Paul
Schnitt
Stela Georgieva
Darsteller
Angela Nedialkova (Avé) · Ovanes Torosian (Kamen) · Martin Brambach (Lastwagenfahrer) · Bruno S. (Viktors Großvater) · Krassimir Dokov (Viktors Onkel)
Länge
86 Minuten
Kinostart
12.04.2012
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Road Movie
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Diskussion
Kennen sie sich (bereits), oder kennen sie sich (noch) nicht? Selten ließ ein Regisseur, der von zwei Menschen erzählt, diese Frage so mutig offen wie Konstantin Bojanov in „Avé“. Dabei beginnt sein Film in medias res, mit einem Ende, das auch Aufbruch und Anfang ist: Nach einer durchzechten Nacht erreicht Kunststudent Kamen in der Kunstakademie eine bittere Nachricht. Wenig später wandert er – Jeans, rotes T-Shirt, blauer Sweater, schwarze Lederjacke, blauer Rucksack – eine Zubringerstrasse entlang aus Sofia hinaus. Unterwegs zieht er aus einer verbeulten Blechdose eine Uhr ohne Zeiger und streift sie über. Mit dieser Uhr komme er immer überall zur gleichen Zeit an, sagt später Avé. Die zweite Hauptfigur dieses Spielfilmdebüts von Konstantin Bojanov taucht quasi aus dem Nichts auf. Der 1968 in Bulgarien geborene Regisseur ist ein arrivierte Multimedia-Künstler, der Dokumentarfilme („Lemon is Lemon“) und experimentelle Kurzfilme („3001“) dreht, aber auch Videoinstallationen („Crash“) macht. Augenfällig ist sein Umgang mit Farben: leuchtendes Rot, Blau, Gelb. Dieses Spiel setzt sich in „Avé“ nahtlos fort, spiegelt sich in der Kleidung der Figuren: Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarzer Sweater, rote Jacke lautet als Antwort auf das Outfit des Mannes das der Frau; frech grün strahlt ihre Umhängtasche, knallgelb irgendwann eine Plastiktüte. Es gibt wenige Filme, die derart Lust machen, über die Bedeutung von Farbe nachzudenken. Und noch etwas zieht in Bann: der Abspann- bzw. Trailer-Song, Catherine Feenys melancholisch-sehnsüchtig-schönes „You better run“ (zu finden auf dem Album „People in the Hole“). Es passt wunderschön zu diesem musikalisch eher frugalen Film, der im Ton so bewusst dem Minimalismus frönt, wie er sich in der Montage gängiger Hektik entgegenstemmt: Da sind die in Aufruhr geratenen Gefühle zweier aus ihrem Alltag gefallener Menschen, die sich verloren in die unendlich weiten Landschaften Bulgariens einbetten. „You better run“: Davonlaufen ist vielleicht tatsächlich eine gute Lösung. Das hatte Kamen auch geplant. Er wollte mit einem Freund abhauen, in den Westen, in eine bessere Welt. Doch nun hat sich dieser Freund das Leben genommen. Eine Schande ist das auf dem Dorf für die Familie, und diese will Kamen nun besuchen. Er will zur Beerdigung, will Abschied nehmen, versucht, per Autostopp von Sofia nach Ruse zu gelangen. Dann steht da plötzlich Avé. Versucht, hinter, neben, vor ihm stehend Autos anzuhalten. Auch sie gibt Ruse als Ziel ihrer Reise an und erzählt von einer kranken Großmutter. Kamen ist irritiert. Über Avés Auftauchen, ihre Aufdringlichkeit, die Impertinenz, mit der sie den Autofahrern Geschichten erzählt, in denen er bald ihr Liebhaber, ihr Freund, der Freund ihres Freundes, ein ferner Bekannter ist. Doch wen kümmert schon, was Avé erzählt? Bruchstückweise holt Bojanov in der Folge ein, was Avés Geschichte wirklich sein könnte. Doch Avé und Kamen sind immer einen Schritt voraus. Sie werden/sind ein Paar, ewig „on the run“: vor sich, dem anderen, zusammen, allein, unterwegs mit dem eigenen Schicksal in einem Land, das jungen Menschen kaum eine Zukunft zu bieten hat. Eine bizarre Geschichte; zart die Zärtlichkeit, die dieses Road Movie bietet, das sich zu einem gewaltigen Kinoerlebnis verdichtet. Anjela Nadyalkova und Ovanes Torosyan, die Avé und Kamen spielen, tun dies reizvoll-launisch ins Ungefähre einer Gegenwart hinein, die, so die Einsicht zum Schluss, auch ein neuer Anfang ist und Hoffnung weckt, dass das Leben vielleicht doch lohnt.
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