Drama | Deutschland 2011 | 111 Minuten

Regie: Didi Danquart

Eine Schauspielerin Mitte 40 kommt zur Beerdigung ihrer Mutter in ihren Heimatort und reist, um der Toten sowie ihren eigenen Wurzeln näher zu kommen, nach Auschwitz. Eine in nostalgischen Rückblenden voller Emotionalität erzählte Literaturverfilmung, die auf den ersten Blick aufdringlich erscheint, zumal das zentrale Thema des Erinnerns unter der bedeutungsschweren Ortswahl ins Wanken gerät. Dass der Film daran dennoch nicht zerbricht, liegt an seiner gelassen zwischen den Welten mäandernden Erzählweise, die eine facettenreiche Collage aus Vergangenem und Gegenwärtigem, Vorstellbarem und Erlebtem, Wunsch und Wahrheit erschafft. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
noir film
Regie
Didi Danquart
Buch
Didi Danquart · Stephan Weiland
Kamera
Johann Feindt
Musik
Matz Müller · Cornelius Schwehr
Schnitt
Silke Botsch
Darsteller
Anna Stieblich (Lena) · Wolfram Koch (Richard Franzen) · Martin Lüttge (Julius Dahlmann) · Ronald Kukulies (Ludwig) · Jörg Metzner (Vater Dahlmann)
Länge
111 Minuten
Kinostart
13.09.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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IMDb | TMDB

Diskussion
Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ Didi Danquart stellt dieses Zitat aus Cees Nootebooms Roman „Rituale“ seinem dritten Kinospielfilm nach „Viehjud Levi“ (fd 33 890) und „Offset“ (fd 37 852) voran, den er zugleich als Abschluss einer Trilogie über die „conditio humana“ verstanden wissen will. Im Niemandsland zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, Vorstellbarem und Erlebtem, Wunsch und Wahrheit, im Gestrüpp aus Ersehntem und Verdrängtem, in dem solche Erinnerungen herumstreunen, bewegt sich auch „Bittere Kirschen“. Der Film beginnt mit einer Fehlleistung, einem Misston: Die Schauspielerin Lena Behsler fällt bei einer Theateraufführung aus der Rolle und überschreitet damit die Grenzen einer Wahrnehmungsebene, wie das sonst nur Träume oder eben Erinnerungen dürfen. Folgerichtig muss sich die Mitvierzigerin kurz darauf vom Theaterdirektor etwas von „neuen Gesichtern“ anhören und dass ihre Auftritte dem Publikum keine Freude bereiten. Das „Theater“-Kapitel ist für Lena damit erst einmal beendet. Lenas beruflicher Umbruch kreuzt sich mit einem privaten, als sie vom Tod ihrer Mutter erfährt. Zur Beerdigung kehrt sie in ihr Heimatstädtchen zurück, wo sie ihrer großen Jugendliebe Ludwig begegnet und bei einem langjährigen Verehrer ihrer Mutter unterkommt, dem kauzigen, stets laut daher polternden Julius Dahlmann. Nicht nur bei Lena ruft die Rückkehr alte Erinnerungen wach. Auch Ludwig kann Lena nicht vergessen und hält um ihre Hand an. Aber Lena fühlt sich für das Ja-Wort noch nicht bereit. Um ihrer verstorbenen Mutter Marlis und ihren eigenen Wurzeln näher zu kommen, reist sie nach Auschwitz, wo Marlis und Julius aufwuchsen. Als Julius davon erfährt, macht er sich ebenfalls auf den Weg dorthin. Auch der örtliche Fußball-Club ist im Rahmen eines Austauschprogramms in Auschwitz, inklusive des jungen Torwarts, auf den Marlis schon länger ein Auge geworfen hat. Hinzu kommt mit Richard Franzen noch ein katholischer Priester und alter Freund von Julius, der in Auschwitz lebt und sich dem Gedenken an den Holocaust verschrieben hat. Die ehemaligen Konzentrationslager selbst werden zwar mehrfach thematisiert, aber nie ins Bild gesetzt. Zumindest fotografisch erfüllt Danquart damit den Anspruch seiner Hauptfigur Lena, die das Lager den Toten zurückgeben, es für Besucher sperren und in eine offene geografische Wunde verwandeln möchte: Betreten verboten. Einige wenige inszenierte Erinnerungsfetzen aus der Nazi-Zeit gibt es aber doch zu sehen. Es sind Kindheitserinnerungen von Julius, dessen Vater ein KZ-Aufseher war. Ein Fragment kehrt dabei mehrfach wieder: Julius, wie er als kleiner Junge mit einer Menora spielt, die er auf dem Dachboden entdeckt hat und wofür ihn sein Vater bestraft. Diese Szene fällt jedes Mal ein wenig anders aus, geradeso, als wäre die Erinnerung nicht nur ein Hund, sondern auch ein Chamäleon, das sich in den Stimmungen der Gegenwart tarnt. Julius will sich nämlich gar nicht erinnern. Lieber denkt er an die abenteuerlichen Momente mit Marlis zurück. Als Sinnbild des Verdrängens greift Auschwitz auch auf Lena über, die vor Ludwig davon läuft und sich in eine Affäre mit dem jungen Torwart verrennt, oder auf den Pfarrer, der heimlich erotische Bilder zeichnet, die Julius taktlos ans Tageslicht zerrt. Für alle drei ist Auschwitz zugleich der Ort, an dem das Verdrängen nicht länger möglich ist. Gemeinsam machen sie sich im Auto auf den Weg zurück nach Deutschland. Für sich genommen, hat fast jede Szene, jede Einstellung der recht freien Verfilmung von Judith Kuckarts Roman „Lenas Liebe“ etwas Banales. Die braun-nostalgischen, kinoschönen Rückblenden triefen vor plakativer Emotionalität. Wenn die von Jytte-Merle Böhrnsen gespielte junge Lena ihrem Geliebten mythenhaft nackt durch die Nacht folgt, riecht das zudem nach einem Vorwand, um die Nudity-Quote zu erfüllen. Immerhin: Schön anzusehen ist es schon, wenn Lenas Nacktheit wie mit einem Blinzeln verschwindet und Lena von einer Treppenstufe zur nächsten plötzlich ein leichtes Sommerkleid trägt. Das macht „Bittere Kirschen“ überhaupt aus: dass man kann seinen Augen nicht trauen kann. Die Wahrheiten und Wirklichkeiten verwehen beim Hinschauen. Auch Tote stehen da schon mal aus ihrem Sarg auf, um noch ein letztes Schwätzchen zu halten. Die große Auschwitz-Metapher will sich in den ironisch-folkloristischen Kusturica-Erzählreigen im Polkatakt jedoch nicht ganz fügen; und wäre Auschwitz nicht auch in Kuckarts Roman ein zentraler Schauplatz, könnte man durchaus Förderungskalkül dahinter vermuten. Natürlich erhält das Phänomen des Erinnerns durch diese Ortswahl neben der individuell-allgemeinmenschlichen, erkenntnistheoretisch-philosophischen eine weitere, deutsch-historische; allerdings gerät der Film unter dieser zusätzlichen Last beträchtlich ins Wanken. Dass er letztlich nicht daran zerbricht, liegt zum einen daran, dass Danquart und sein Co-Autor Stephan Weiland ihr Augenmerk im Stil eines Road Movies bald wieder auf das Unterwegs richten, auf die Fahrt zurück. Zum anderen aber auch daran, dass sie vieles nur andeuten und kaum ins Melodramatische abdriften. Leicht und gemächlich vollziehen sich der Wandel und das Erinnern der Figuren; auch dann noch, wenn es schmerzhaft wird. Lediglich der Pfarrer wird gleichsam über Nacht ein Anderer; er verfällt Lena und (ver)zweifelt am Zölibat. Doch auch das darf man diesem so gelassen zwischen objektiven und subjektiven Erlebniswelten mäandrierenden Film getrost verzeihen. Wolfram Koch, Ronald Kukulies und Anna Stieblich scheinen mit den Klischees, die sie umgeben, ohnehin nur zu spielen, so lebendig und leichthin verkörpern sie ihre Charaktere. Vor allem aber ist ein Film mehr als die Summe seiner einzelnen Szenen und Einstellungen. Selten wurde das so deutlich wie in dieser schön verträumten, melancholischen und außergewöhnlichen Collage aus sattsam vertrauten Kinobildern. Ein eigenwilliger, mutiger, facettenreicher, unterm Strich auch gelungener Film. Dass Danquart den Titel „Bittere Kirschen“ in Anlehnung an „Wilde Erdbeeren“ (fd 10 365), Ingmar Bergmans Meisterwerk über das Erinnern, wählte, scheint dann aber doch etwas vermessen.
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