Drama | Deutschland/Norwegen 2012 | 131 Minuten

Regie: Matthias Glasner

Ein deutscher Ingenieur zieht mit Ehefrau und heranwachsendem Sohn ins norwegische Hammerfest, um dort in einer Erdgasverflüssigungsanlage zu arbeiten. Als seine Frau, die als Krankenschwester in einem Hospiz arbeitet, im Dunkel der Polarnacht eine Schülerin überfährt und Fahrerflucht begeht, rücken die einander entfremdeten Eheleute wieder zusammen. Ein irritierendes Drama, das den Themenkreis um Schuld und den Wunsch nach Vergebung in eine gewagte, mitunter plakative Erzählung einbettet und das moralische Dilemma eher unbefriedigend auflöst. Gleichwohl überzeugt der souverän und vielschichtig gespielte Film durch eindringliche, unwirklich erleuchtete Bilder der Schneelandschaft. (Teils O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Norwegen
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Schwarzweiss Filmprod./Knudsen & Streuber/Neofilm/Ophir Film/ZDF/ARTE
Regie
Matthias Glasner
Buch
Kim Fupz Aakeson
Kamera
Jakub Bejnarowicz
Musik
Homesweethome
Schnitt
Heike Gnida
Darsteller
Jürgen Vogel (Niels) · Birgit Minichmayr (Maria) · Henry Stange (Markus) · Ane Dahl Torp (Linda) · Maria Bock (Wenche)
Länge
131 Minuten
Kinostart
18.10.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Die Geschichte eines radikalen Neuanfangs – am Ende der Welt, wenn man so will. Matthias Glasners „Gnade“ spielt in Hammerfest, der nördlichsten Stadt Europas, hoch oben in Norwegen. Hier scheint im Winter keine Sonne, herrscht eisiger Frost. Hammerfest – ein Ort von überhöhter metaphorischer Bedeutung. Hierher, in diese imposante Schneewüste, ist Niels mit seiner Frau Maria und dem heranwachsenden Sohn Markus gezogen. Der Neuanfang ist Flucht und Chance zugleich. Niels hat seine Frau in Deutschland immer wieder betrogen, nun hat er eine Anstellung als Ingenieur auf einer Erdgasverflüssigungsanlage erhalten, auf einer Insel vor Hammerfest. Einmal macht er auf dem unübersichtlichen Werk voller Stahl und Röhren seine Untergebenen lautstark zur Schnecke – auf Englisch, weil er noch kein Norwegisch spricht. Maria hingegen hat sich bereits angepasst. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Hospiz. Für sie ist es selbstverständlich, die Sterbenden in ihrer Sprache zu begleiten. Ist eine Kollegin krank oder schwanger, schiebt sie doppelte Schichten. Das kalte Schweigen und der unterschwellige Zorn zwischen Niels und Maria, von Markus mit einem iPhone heimlich dokumentiert, zeugt davon, dass die Eheleute ihre Probleme mit nach Hammerfest genommen haben. Nichts hat sich geändert, zumal sich eine forsche Arbeitskollegin Niels zum reuelosen Seitensprung anbietet. Dann passiert etwas, was beider Leben verändern wird. Auf dem Heimweg, übermüdet von einer Doppelschicht, überfährt Maria irgendetwas – oder irgendjemanden. Unter Schock stehend, begeht sie Fahrerflucht. Viel zu spät berichtet sie Niels von dem Unfall, er eilt noch einmal zurück, kann aber nichts finden. Erst am nächsten Tag erfahren sie aus der Zeitung, dass Maria, die den Menschen doch immer nur helfen will, eine Mitschülerin von Markus überfahren hat. Schwer verletzt wollte sich das Mädchen weiterschleppen, fiel aber in ein Schneeloch und starb. Es könnte noch leben, hätte Maria angehalten. Maria hat ein Leben ausgelöscht und damit auch sich selbst: „Ich bin nicht dieser Mensch, der andere tötet“, ruft sie verzweifelt, immer wieder. „Das bin nicht ich, das bin ich nicht!“ Im Folgenden wird sich Glasner mit den Auswirkungen und Folgen dieser Schuld beschäftigen, einer Schuld, die nicht zwangsläufig zur Sühne führt, wie man es erwarten würde. Die Fahrerflucht mit Todesfolge schweißt Mann und Frau wieder enger zusammen, und auch der entfremdete Sohn, der sich sonst (in einer weiteren starken Metapher) nur mittelbar über iPhone und Internet am Familienleben beteiligte, rückt näher heran. Dass das Leid der einen Familie zum Glück für die andere wird, ist eine gewagte und plakative, im Grunde sogar geschmacklose Erzählkonstruktion; doch Glasner dreht die Schraube noch weiter. „Gnade“ heißt sein Film, und auch wenn sich Maria der Sühne verweigert, so strebt sie doch nach Vergebung, weil ohne sie ein Weiterleben nicht möglich ist. Das führt zu einem eigentümlich irrealen, unechten, weil forcierten Happy End, bei dem sich endlich, nach acht Wochen erzählter Zeit, die Sonne wieder meldet und die Schneelandschaft im strahlenden Weiß leuchtet. Das mag man kitschig finden oder passend. In jedem Fall löst Glasner das moralische Dilemma seines Films nur unzureichend, weil seine Figuren keine Läuterung durchmachen. Dazu passt auch die Darstellung der Maria durch die souveräne Birgit Minichmayr: Zunächst überzeugt sie als hilfsbereite, geradezu aufopferungsvolle Krankenschwester, die ihrem Mann eine zweite Chance geben will. Doch angesichts ihrer Schuld, die sie von sich weist, verleitet der Regisseur sie zu einem unreifen Trotz, der den Zuschauer abrupt in Opposition zur Figur stellt: Würde man selbst auch so handeln? Oder nicht einfach zur Polizei gehen? Jürgen Vogel hingegen interpretiert den Ehemann überaus nuanciert und vielschichtig. Kühl verfolgt er zunächst seine beruflichen Ziele, seine Frau verletzt er durch Untreue, um dann immer sensibler und fürsorglicher auf die Katastrophe zu reagieren. Bemerkenswert, bei aller Irritierung, ist auch Glasners Mut und Bereitschaft, für seine Geschichte Deutschland zu verlassen, um in der Schneewüste Norwegens, während der zweimonatigen Polarnacht, die durch zahlreiche Lichter im Haus oder auf den Straßen wie ein Jahrmarkt erleuchtet ist, eindringliche Bilder zu finden. Kein Wunder, dass sich Dunkelheit und Kälte auf die Seele der Protagonisten legen.
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