Dokumentarfilm | Schweiz/Frankreich/Deutschland 2012 | 87 (TV 15) Minuten

Regie: Mirjam von Arx

Ballkleider, Tüll, Tanzen, Musik: Was nach einem typisch konservativen Debütantinnen-Ball aussieht, wie er in "besseren" Gesellschaftskreisen noch immer gefeiert wird, entpuppt sich als obskures Ritual evangelikaler US-Christen - als Keuschheitsball. Zwei Jahre lang begleitet der Dokumentarfilm eine prominente evangelikale Familie in Colorado Springs. Die respektvolle Annäherung an die Familie ermöglicht tiefe Einblicke in einen hermetischen Kosmos, der politisch zunehmend an Einfluss gewinnt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
VIRGIN TALES
Produktionsland
Schweiz/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Ican Films/SRF/SRG SSR/ARTE
Regie
Mirjam von Arx
Buch
Michèle Wannaz · Mirjam von Arx
Kamera
Kirsten Johnson · Claudia Raschke
Musik
Adrian Frutiger
Schnitt
Sabine Krayenbühl
Länge
87 (TV 15) Minuten
Kinostart
25.07.2013
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion

Reinheit als geradezu sportliche Disziplin – und als Fetisch: Kein Begriff fällt in „Virgin Tales“ so häufig wie der der „purity“ – selbst Gott nicht. Das Gebot, jungfräulich in die Ehe zu gehen, unbefleckt zu sein – oder für die, die bereits verheiratet sind: das Glück, sich „aufgespart“, sogar mit dem ersten Kuss bis zur Hochzeit gewartet zu haben – wird in der evangelikalen Gemeinde, von der der Film erzählt, nicht nur unaufhörlich und auf geradezu obsessive Weise sprachlich verhandelt, sondern auch gleich mehrfach performativ zelebriert. Bei dem jährlich stattfindenden „purity ball“ – ein Keuschheitsball, den der prominente Evangelikale Randy Wilson ins Leben gerufen hat und der mittlerweile in 48 US-Staaten gefeiert wird, – legen Väter und Töchter gemeinsam ein Gelübde ab, alle Kräfte für die Keuschheit des Mädchens aufzuwenden.

Das Reinheitsgebot bildet sich dabei auch ästhetisch ab: die Jungfrauen – teilweise sind es noch Kinder, einige davon gerade einmal vier Jahre alt – treten in luftigen weißen Tutus auf, tanzen und stellen ein großes Holzkreuz auf, später unterschreiben sie einen Reinheitsvertrag und bekommen von ihren Vätern einen Ring an den Finger gesteckt. Man kann das natürlich auch als symbolische Ehe mit dem eigenen Vater lesen – schließlich fungiert er als Vorbild für den zukünftigen Ehemann und rührt so manche Tochter zu Tränen der Dankbarkeit und hingebungsvoller Liebe. Für die Männer gibt es stattdessen Männlichkeits-Zeremonien in Randy Wilsons Wohnzimmer – eine weitaus informellere Feier mit überdimensioniertem Schwert und viel kriegerischer Rhetorik: Auch hier wird der Kampf der „Männer Gottes“ für die Reinheit rituell vollzogen.

Daneben finden regelmäßige Reinheitstreffen und andere „Lehrveranstaltungen“ statt. Jordyn Wilson, die noch unverheiratet bei ihren Eltern lebt, erteilt beispielsweise anderen Mädchen Anstandsunterricht. Sie lehrte sie, wie man sich unaufreizend über einen Trinkbrunnen beugt und wie man dem zukünftigen Ehemann ein schönes Heim bereitet – als Vorbild dient ihr ein Buch über Etikette aus dem Jahr 1921.

Die Filmemacherin Mirjam von Arx hat über einen Zeitraum von zwei Jahren die neunköpfige Familie Wilson an ihrem Wohnort Colorado Springs mit der Kamera begleitet. Sie ist dabei tief in den Kosmos der Evangelikalen eingedrungen. Doch so gruselig deren Gesellschafts- und Geschlechterbild für jede halbwegs emanzipierte Zuschauerin auch ist: von Arx wertet nicht, sie schaut nur und beobachtet dabei einen Fanatismus, der sich hinter einer „all american“-Fassade geschickt tarnt. Denn auf den ersten Blick sehen die Wilsons aus wie eine typische konservative Mittelschichts-Familie: proper, gepflegt, die Töchter mit ihren langen, in perfekte Wellen gelegten Haaren wie Schwestern Cinderellas. Vater Wilson, der hauptberuflich und durch Spendengelder finanziert an der Stärkung von Familienwerten arbeitet, tritt wie ein Geschäftsmann auf, der das neoliberale Paradigma der Selbstoptimierung im Gepäck hat.

„Virgin Tales“ tut gut daran, Familien wie die Wilsons ernst zu nehmen und sie nicht als reaktionäre Spinner zu verharmlosen: In den USA stellen die ultrakonservativen Christen etwa einen Viertel der Bevölkerung und bilden damit die stärkste religiöse Vereinigung des Landes. Ihr politischer Einfluss ist steigend: die christliche „neue Rechte“ der USA setzt sich inzwischen mehrheitlich aus Evangelikalen zusammen. Die Außenwelt wird zwar weitgehend fern gehalten – es gibt Hausunterricht, eigene Unterrichtsmaterialien – doch der eigene hermetische Kosmos wird mit unerschütterlichem Eifer ausgebaut und gestärkt. Der Totalitarismus dieses Systems spricht mit blumigen und salbungsvollen Worten.

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