Alphabet - Angst oder Liebe

Dokumentarfilm | Österreich/Deutschland 2013 | 113 Minuten

Regie: Erwin Wagenhofer

Dokumentarisches Essay über eine Tendenz innerhalb der seit den Pisa-Reformen stärker instrumentalisierten Bildungssysteme. Humanistische Ideale, so der Film, würden darin zugunsten von Zielen verdrängt, die in industriell-arbeitsteiligen Gesellschaften direkten Nutzen versprechen. Dritter Teil einer kapitalismuskritischen Trilogie, der im Konkurrenzdenken, das von der Wirtschaft auf die Bildung übertragen wurde, einen fundamentalen Fehler erkennt. Während Erwin Wagenhofer in den ersten beiden Filmen anhand exemplarischer Zusammenhänge die Funktionsweise und den Zynismus globaler Zusammenhänge analysierte, scheitert er hier an der Komplexität des Themas. Sowohl formal als auch inhaltlich polemisiert er auf niedrigem Niveau und arbeitet mit simplen Kontrasten, die unkritisch einander gegenübergestellt werden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ALPHABET
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Home Run Pictures/Rommel Film
Regie
Erwin Wagenhofer
Buch
Sabine Kriechbaum · Erwin Wagenhofer
Kamera
Erwin Wagenhofer
Musik
André Stern
Schnitt
Erwin Wagenhofer · Michael Hudecek · Monika Schindler
Länge
113 Minuten
Kinostart
31.10.2013
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs sowie ein ausführliches und informatives Booklet (32 Seiten).

Verleih DVD
Pandora (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
Verleih Blu-ray
Pandora (16:9, 1.85:1, dts-HDMA dt.)
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Diskussion
Einem Schüler fallen im Bus die Augen zu. Er blickt freudlos in die Kamera, eine Medaille um den Hals. Der Junge lebt in China. Dort beginnt Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm auch gleich mit einer programmatischen Gegenüberstellung. Professor Yang Dongping steht mit wehendem Haar an einer Schule für Wanderarbeiter; er lobt die Begeisterungsfähigkeit der Kinder, die hinter ihm im Müll spielen, und blickt ein wenig wehmütig zurück in sozialistische Zeiten, als der kapitalistische Markt- und Konkurrenzdruck die Kinder noch nicht im Griff hatte. Später sieht man ihn bewegungslos und müde die Urkundenparade der stolzen Mutter erdulden. Durch China reist auch ein deutscher Wissenschaftler in grauem Anzug, mit grauem, akkuratem Schnauzer und Haarschnitt: Andreas Schleicher koordiniert die internationale Pisa-Studie, bei der China regelmäßig am besten abschneidet. Die Pisa-Studie steht bei Wagenhofer auf der dunklen Seite der Bildung: Ein Wettbewerb wie die vielen Mathematik-Olympiaden und Konkurrenzen in allen Bereichen, mit denen die Schüler gnadenlos ausgesiebt werden. Die radikale Gegenüberstellung ist hier Prinzip; für Wagenhofer gibt es so etwas wie „weiße“ und „schwarze“ Bildung (im Sinne von weißer und schwarzer Magie), dazwischen gibt es scheinbar nichts. „Alphabet“ ist der Schlussstein von Wagenhofers Trilogie über die globalisierten Auswüchse des Kapitalismus: In „We Feed the World“ (fd 37 595) ging es um die Nahrungsmittelindustrie, in „Let’s Make Money“ (fd 38 969) um die globalen Finanzströme. Jetzt stehen die Bildung beziehungsweise die Bildungssysteme im Zentrum, da sie, so die These, international zur Standardisierung tendieren, um aus Schülern marktkonforme Einheitsdenker zu machen. Das Kreative, das unangepasste Denken, das Spielerische, Naiv-Neugierige der Kindheit, die Fantasie, ja überhaupt die musisch-künstlerische Bildung würden dabei bewusst, weil unerwünscht, erstickt. Auf dem Filmplakat findet sich der provokante Satz: „98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%“. Es stellt sich heraus, dass der Satz mit dem, was gemeinhin unter Hochbegabung verstanden wird, gar nichts zu tun hat. Wagenhofer zitiert aus einer Studie zum „Unangepassten Denken“, bei der 98 Prozent der 3-5-Jährigen unter dem fragwürdigen Label „genial“ (das sich auf dem Plakat dann in „hochbegabt“ wandelt) subsumiert werden, während nur noch 2 Prozent der 25-Jährigen dieses Niveau erreichen. Wagenhofer ist ein streitbarer Dokumentarfilmer mit einer klaren Haltung. Seine Kritik ist in vielen Teilen berechtigt, sein Plädoyer für die Kindheit ist richtig und gut. Die Argumente im Film werden allerdings, formal wie inhaltlich, sehr flach und polemisierend vorgebracht. Das beginnt schon bei der Auswahl und Kontrastierung der Protagonisten. Auf der einen Seite eine Elite-Auswahl angehender McKinsey-Berater, Anzugträger, die in von Neonröhren erleuchteten Konferenzräumen neoliberale Erkenntnisse auf Flipcharts notieren. Sie werden eher beobachtet als angehört. Auf der anderen Seite die Familie des in Paris lebenden Kunstpädagogen Arno Stern, dessen Sohn André ohne Schulbildung aufgewachsen ist, der darüber viel geschrieben hat und als Gitarrenbauer arbeitet. Wagenhofer, der im Film unsicht- und hörbar bleibt, begleitet die Familie. Zu sehen sind: Das lichte Malstudio, der wunderschöne Garten, Hände, die zärtlich über den Werkstoff Holz streichen. Der Kunstpädagoge Stern vergleicht in einer Szene Bilder von Kindern nach dem Krieg (Häuser, Blumen, Wiesen, Fische) mit Bildern von Kindern aus der Gegenwart: abstrakte Muster; Zickzacklinien, die Berge darstellen sollen. Dies führt zur These, dass die Kinder schon sehr früh die Ansprüche der Erwachsenen erfüllen. Aber vielleicht waren die „Helikopter-Eltern“ des Kindes mit ihm vorher einfach in einer Kubismus-Ausstellung? Vielleicht malt das Kind lieber Muster? Als gäbe es keine Kinder mehr, die Häuser und Prinzessinnen malen. Die Eltern werden ausgeklammert, die Unterschiede der Bildungssysteme ebenso. Alles, was nicht in Wagenhofers Bild passt, wird vernachlässigt oder verschwiegen. Etwa die Erkenntnis aus der Pisa-Studie, dass viele Fragen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht zu standardisiert sind. Im Zuge von Pisa wurden die Fragestellungen „kreativer“. Wagenhofer zielt auf das große Ganze ab, darauf, dass sich in der Ansicht von exemplarischen Zusammenhängen die Krankheit des globalen Systems spiegelt. In „Alphabet“ geht er jedoch simplifizierend, schon fast sektiererisch-sendungsbewusst, manipulativ und unkritisch vor und scheitert an der Komplexität des Themas. Er macht letztlich genau das, was der Pisa-Studie stets vorgeworfen wurde: Er vergleicht Äpfel mit Birnen.
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