Coming-of-Age-Film | Schweiz 2015 | 114 Minuten

Regie: Simon Jaquemet

Nach unterschwelligen Konflikten mit seinen Eltern wird ein Schweizer Teenager in ein Erziehungscamp in den Alpen gesteckt, das seinen eigenen Gesetzen folgt, bis es zu offener Gewalt und einer Katastrophe kommt. Das bildgewaltige Jugenddrama räumt den abgeschobenen Jugendlichen und ihrer ungestümen Wut viel Platz ein. Mit ungebremster Roheit, einer rastlos-rasanten Kamera und wild-enthemmter Musik zeichnet er die zerstörerische Gruppendynamik zwischen den von Laien gespielten Jugendlichen nach und konfrontiert mit einer Härte, die sich in den schroffen Bergpanoramen krude widerspiegelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CHRIEG
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
hugofilm
Regie
Simon Jaquemet
Buch
Simon Jaquemet
Kamera
Lorenz Merz
Schnitt
Christof Schertenleib
Darsteller
Sascha Gisler (Dion) · Benjamin Lutzke (Matteo) · Ella Rumpf (Ali) · Ste (Anton) · John Leuppi (Matteos Vater)
Länge
114 Minuten
Kinostart
28.04.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Jugendfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In einer ungebremsten Rohheit, wie man sie jüngst auch in „Driften“ (2014) von Karim Patwa beobachten konnte und die bisher im Schweizer Filmschaffen kaum anzutreffen war, erzählt Simon Jaquemet in seinem Spielfilmerstling vom Heranwachsen eines aus der Wohlbehütetheit geworfenen Jugendlichen. Matteo ist, wie mancher 15-Jähriger, etwas verschlossen, ein wenig unentschlossen, ziellos auch. Kein böser Junge, im Gegenteil: Matteo hat etwas Fragiles an sich. Ab und zu pafft er, dealt ein bisschen, surft heimlich auf Sex-Seiten. Seine offizielle Schulzeit hat er bald hinter sich, weiß nicht, was danach kommt. Er lebt mit seinen Eltern in einer gesichtslosen Einfamilienhaus-Siedlung in der Agglomeration von Zürich und hat ein wenige Wochen altes Brüderchen. Die adipöse Mutter ist voll und ganz mit dem Baby beschäftigt, der durchtrainierte Vater ein knallharter Typ, der an seinen Ältesten nicht herankommt. Der Vater habe jüngst ein paarmal angerufen, teilt man Matteo auf der Jugendbetreuungsstelle mit, er möchte seinen Sohn den Sommer über in ein „Bootcamp“ stecken, damit aus ihm ein strammer Kerl mit straffen Muckis wird. Matteo schweigt. Nimmt eine junge Prostituierte mit nach Hause, die sich als seine Freundin ausgibt, geht mit seinem Bruder in den Wald, ohne das den Eltern mitzuteilen. „Willst du später mein Freund sein?“, fragt er das Baby, stolpert danach blöd mit dem Kind in den Armen. Wo Elternnerven blank liegen, braucht es wenig, um ein Fass zum Überlaufen zu bringen. Mitten in der Nacht, als ob Matteo ein Schwerverbrecher wäre, fahren die Sozialarbeiter mit dem Kastenwagen vor und führen Matteo auf einen Hof in einem alpinen Hochtal. Ein bärtiger Bauer, Hanspeter, und sein junger Zögling, Anton, nehmen ihn Empfang. Kein Handy, kein Fernsehen, kein Internet, keine Drogen, kein Alkohol, verkündet Hanspeter krude die Regeln: Bei hartem Schuften sollen Matteo die Flausen vergehen. Man hat von solchen erzieherischen Maßnahmen gehört, um mit schwer erziehbaren Jugendlichen und jungen Delinquenten umzugehen. Man hat in der Schweiz – so wie Jaquemet, der an der Zürcher Hochschule der Künste Film studierte und sich vor seinem Langfilmdebüt einen Namen als Musikvideo-Regisseur machte – vor einigen Jahren aber auch von wüsten Missständen in solchen Camps vernommen. Diese Berichte bilden zusammen mit Jaquemets jugendlicher Vorstellung eines Königreichs hinter den Bergen, in dem die Erwachsenen die Kontrolle über die Jugendlichen verloren haben, den Hintergrund von „Chrieg“. Die Story nun nimmt eine unverhoffte Wendung: Kaum sind die Sozialarbeiter von dannen, tauchen aus dem Keller des Hofes zwei weitere Jugendliche auf. Dion und Ali sind Ausgewiesene, die von den Behörden längst wieder in ihrer Heimat vermutet werden. Noch ein bisschen Party machen wollen sie in der Schweiz, bevor es nach Serbien geht. Unverblümt Klartext wird da gesprochen. Ali ist ein Mädchen mit Kahlrasur und männlichem Gebaren. „Für uns ist sie einfach ein Kerl“, erklärt Anton, und Matteo soll sie in Ruhe lassen. Doch bis Anton mit Matteo spricht, muss Matteo die Regeln auf der Alp kennenlernen und einen herben Aufnahmeritus über sich ergehen lassen. Regel eins: Hier haben die Jungen das Sagen, Hanspeter, schwer alkoholabhängig, dient nur als Alibi. Tagsüber hängt man rum, abends fährt man öfters ins Tal, um die Sau rauszulassen, in die Disko zu gehen, einzubrechen, seine Wut loszuwerden, eben „Krieg zu führen“ gegen diese Gesellschaft, aus der man stammt und zu der man trotzdem nicht gehört. Wüst geht es zu, bei jeder Talfahrt eskaliert die Situation ein bisschen mehr. Rache wird genommen, und auch Matteo rächt sich irgendwann an seinem Vater. Die gröbste Szene ist der Initiationsritus, eine Mutprobe, die Matteo zu bestehen hat. Und doch bewährt sich Matteo. Mehr noch: Er findet hier gar eine Art Ersatzfamilie. Ungehobelt kommt das alles daher. Die Kamera ist rastlos, rasant, wackelig. Oft hautnah an den Figuren und dann doch wieder in der im Schweizer Film beliebten Alpen-idylle schwelgend, die hier – ähnlich wie in Fredi M. Murers „Höhenfeuer“ (1985), Séverine Cornamusaz „Coeur animal“ (2009) und Michael Steiners „Sennentuntschi“ (2010) – krude gebrochen wird. Die Musik ist wild, ebenso der Slang der Jugendlichen. Es wirkt vieles authentisch, gerade auch das Spiel der jungen Darsteller, von denen Jaquemet die meisten, so auch Hauptdarsteller Benjamin Lutzke, im Streetcasting gefunden hat. „Chrieg“ hat etwas Ungekünsteltes an sich und verströmt eine wohltuend unverschämte Selbstgewissheit, die dem (Deutschschweizer) Film oft fehlt. Ein starkes Stück.
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