Am Ufer des Flusses

Drama | Portugal/Frankreich/Schweiz 1993 | 187 Minuten

Regie: Manoel de Oliveira

Eine attraktive Frau, die einen wesentlich älteren Arzt heiratet, erhält durch diese Ehe Zutritt zu den Kreisen des portugiesischen Landadels. Die zunehmende Einsamkeit, die sie dafür in Kauf nehmen muß, versucht sie mit amourösen Affären und (Gesellschafts-)Spielen zu verdrängen. Eine durch ihre inszenatorische Geschlossenheit überzeugende, epische Literaturverfilmung, die die Trennung von Seele und Körper als Ursprung des Lebensschmerzes reflektiert und in eine religiöse Dimension hebt. Zugleich ist der hervorragend inszenierte und gespielte Film eine Auseinandersetzung mit der traditionsverhafteten Oberschicht Portugals. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
VALE ABRAAO
Produktionsland
Portugal/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Madragoa/Gemini/Late Night Prod./I.P.C./F.C. Gulbenkian/S.E.C./Canal plus/Offive Fédéral de la Culture/T.S.R./Eurimages
Regie
Manoel de Oliveira
Buch
Manoel de Oliveira
Kamera
Mario Barroso
Musik
Ludwig van Beethoven · Frédéric Chopin · Gabriel Fauré · Claude Debussy · Robert Schumann
Schnitt
Manoel de Oliveira · Valérie Loiseleux
Darsteller
Leonor Silveira (Ema) · Cécile Sanz de Alba (die junge Ema) · Luís Miguel Cintra (Carlos de Paiva) · Rui de Carvalho (Paulino Cardeano) · Isabel Ruth (Ritinha)
Länge
187 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Von 1971 bis 1981 schuf der große portugiesische Regisseur Manoel de Oliveira - am 12. Dezember wurde er 85 Jahre alt - einen vierteiligen Zyklus der "amores frustrados", der frustrierten, scheiternden Lieben. "Vergangenheit und Gegenwart" (1971), "Benilde, Jungfrau und Mutter" (1975), "Das Verhängnis der Liebe" (1978) und "Francisca" (1981) basierten auf literarischen Vorlagen. "Am Ufer des Flusses", Oliveiras neuer Film, ist zugleich Fortsetzung und resümierende Reflexion dieser einzigartigen Tetralogie. Die Heldinnen jener Filme sind im eigentlichen Sinne die (Jung-)Frauen. Sie repräsentieren den Absolutheitsanspruch des Individuums gegen staatliche, religiöse oder familiäre Werte, Vorstellungen und Rollenfixierungen. Es sind (Frauen-)Geschichten aus dem Gestern und Heute, scheiternd an der Unmöglichkeit der Realisierung von Liebe, Glück und Harmonie, bestimmt von einer Sehnsucht zum Tode. Ihre Utopien von Liebe und Glück kreisen nicht (oder nur vordergründig) um die körperliche, irdische Verwirklichung, sondern um deren geistige und zutiefst menschliche Ausformung. Ihre verzehrende Liebe, das Scheitern an dem hohen Ideal bringt sie in die Nähe von Kleists Figuren, die an der Enge und grausamen Wirklichkeit der menschlichen Existenz verzweifeln.

Ema, die einzige Tochter eines reichen Witwers, wächst unter der Obhut einer strenggläubigen Tante glücklich und zufrieden in Lamego, einem kleineren Ort südlich des Flusses Douro auf. Eines Tages, sie speist mit dem Vater außer Haus, wird ihr Carlos de Pavira, ein verwitweter Landarzt, praktizierend im Vale Abraao, vorgestellt. Die 14jährige Ema findet den älteren Herrn eher unattraktiv, ja abstoßend. Jahre vergehen, doch die Schönheit und Anmut des Mädchens sind, trotz einer leichten Behinderung am linken Fuß, noch größer geworden. De Paiva besucht das väterliche Haus, um sich in Sachen Wein beraten zu lassen und wird von Emas Ausstrahlung geblendet. Und bald ehelicht er, der seinen Lebensunterhalt auch mit Schmuck- und Börsengeschäften aufbessert, die junge Frau. Im Vale Abraao erwartet Ema ein Leben in respektablem Luxus, großbürgerlicher Landaristokratie - und Einsamkeit. Auf Grund der häufigen Abwesenheit des Arztes bezieht das Paar getrennte Schlafzimmer. Zunächst beginnt Ema ihr Bedürfnis nach Liebe, Sinnlichkeit und Kommunikation durch Lektüre (Flauberts"Madame Dubary"), dann mit eigenen Ideen und Unternehmungen zu stillen. Umworben von den neugierigen Nachbarn, entdeckt sie ihre Fähigkeit und Lust, das andere Geschlecht anzuziehen, es sich als intelligente und charmante Partnerin gefügig zu machen. Da Carlos' Passivität schier grenzenlos ist, lassen Affären nicht lange auf sich warten. Ema verbringt viele Tage außer Haus, in Vesuvio, bei Osorio, sogar mit einem jungen Domestiken. Aber immer wieder flieht sie, inzwischen Mutter zweier Töchter, voller Sehnsucht und Enttäuschung vor den Menschen, der Liebe und den Orten. Eines Tages, sie ist durch einen Orangenhain zum Bootssteg am Douro gegangen, fällt Ema ins Wasser.

Als "Nachdenken über Flaubert" hat Oliveira seine epische, im wahren Sinne audio-visuelle Verfilmung des Romans von Agustina Bessa-Luis bezeichnet. "Ich bin nicht die kleine Bovary, und noch weniger Flaubert. Wir haben nur denselben Vornamen." Emas Selbsteinschätzung ist so radikal wie zeitlos: "Ich habe keine Zukunft. Ich existiere nur in der Vergangenheit. Nur die Vergangenheit lebt in mir." Dieser Blick zurück, diese Sehnsucht nach einem imaginären Ort der Kindheit, ja des Paradieses macht aus "Am Ufer des Flusses" auch eine biblische, eine religiöse Geschichte. Mit der Trennung von Religion und Individuum, von (animalischem) Instinkt und (menschlicher) Ratio, von Seele und Körper, von weiblicher und männlicher Sexualität - wie sie Ema fühlt und erfährt - reflektiert der Film ein uraltes und hochaktuelles Problem. Was Sally Potters "Orlando" in einigen Episoden an Geschlossenheit und Überzeugung noch fehlte, gelingt Oliveira nahezu mühelos. Seine Ema ist eine Wanderin durch Raum und Zeit. Ihre ungeheuere Melancholie braucht diese Maske der Sinnlichkeit im Universum der verständnislosen Männer. "Männer bauten Schlösser, schlössen sich in ihnen ein und herrschten über ihre Diener, Gattinnen und Mätressen. Ema war eine Überlebende aus den unzähligen Niederlagen, die den Weg der weiblichen Geschichte säumten", heißt es einmal im Kommentar, der sich so begleitend, feinfühlig und nachdrücklich in die Filmhandlung immer wieder ein- und ausblendet. Andere, dramaturgisch ähnlich eingesetzte Elemente sind die Musiken, die Zugfahrten im Douro-Tal, Bilder der wild-romantischen Natur, der Arbeit an den Rebstöcken.

"Am Ufer des Flusses" und seine Hauptfigur erinnern an drei große Vorbilder: Alida Valli m Viscontis "Senso", Brigitte Bardot in Godards "Die Verachtung" und Hanna Schygulla in Fassbinders "Effi Briest" sind Schwestern von Ema; Frauen, die sich mit ihren Gefühlen, ihrer Verachtung und ihrem Schmerz aus dem Gefängnis ihrer Zeit befreien, rebellieren. Ein inniges, menschliches Verhältnis hat Ema nur mit der taubstummen Ritinha, der sie seit den Kinderjahren begleitenden, messerscharf beobachtenden Waschfrau. "Wir sind nicht wir selbst, wir sind nur Gefangene", sagt Ema über das gemeinsame Schicksal. Und Oliveiras haargenau getimte, rhythmisch ausgeklügelte Filmsprache findet stets neue, atemberaubende Bilder von den Sehnsüchten, Wünschen und Träumen. Es sind Reisen durch unsere ganze sichtbare und verborgene Wirklichkeit, Reisen in das Universum der verlorenen Gefühle - ohne die Illusion zu schüren, jene paradiesisch verklärte Zeit der Unschuld habe je wirklich existiert. Da erteilt der Film der katholischen Disposition Portugals gleich zu Beginn (Tante Agustina konfrontiert Ema mit der Sinn- und Existenzfrage Gottes) eine eindeutige Abfuhr. Wenngleich natürlich Ema - wie ihre Vorgängerinnen der "amores frustrados" im Scheitern und Verzweifeln am Irdischen, am Diesseits - das Glück, jenes andere, bessere Leben nur im Jenseits finden kann. "Ema will ihr Ziel erreichen durch die Passion, die Gnade oder das Leiden. Ema gestattet es mir, einiges zu sagen über die Realität der Frauen, aber auch über ihre Irrealität. Sie geht gewissermaßen den umgekehrten Weg der 'portugiesischen Nonne', aber wie diese findet sie sich stets in einem Zustand des Verlangens. Sie kehrt zum Wasser zurück, weil sie vom Wasser herkommt. Ihr Tod ist wie eine Neugeburt. Sie transzendiert die ganze Zeit die Realität, aber die Männer haben keine Flügel." (Manoel de Oliveira)

Wie bereits im Eröffnungswerk der frustrierten Lieben, in "Vergangenheit und Gegenwart", decouvriert und geißelt Oliveira die Mentalität, die politischen Anschauungen der einheimischen, traditionsverhafteten Oberschicht. Während einer Zusammenkunft in Vesuvio beklagt der Belcanto-Sänger stellvertretend das Verschwinden alter, liebgewonnener Dinge: die Umwälzungen von 1974 haben die Herrschaft der Jeans-Bourgeoisie ermöglicht, die Leute seien enttäuscht, zu Hause und in den Kolonien. Außerdem habe sich das Verhältnis zum Geld, zur Krankheit und zur Sexualität verändert. Das Leben heute erscheint der (Land-)Aristokratie nicht mehr erstrebenswert, eine reine statistische Größe. Kein Wunder also, daß die Vertreter der desillusionierten Männlichkeit mit dem von Ema reklamierten Frauentyp nicht zurechtkommen. "Du denkst wie ein Mann. Als Frau hast du die Männer usurpiert. Ich müßte eine Frau sein, um in deinen Kopf einzudringen", bringt ein Verehrer ihre Schizophrenie, ihr provozierendes Bewußtsein auf den Punkt. In diesem Zusammenhang sei auf zwei äußerst erotische Sequenzen von "Am Ufer des Flusses" hingewiesen. Zu Beginn beobachtet und berührt die junge Ema voller Sensibilität einen sich öffnenden Blumenkelch: da werden ohne Worte oder beschämende Einstellungen ganze Welten und Abgründe angedeutet. Die zweite Sequenz betrifft eine philosophische Unterhaltung, während derer sich die Hauptdarstellerin von ihrem Gesprächspartner Feuer für ihre Zigarette holt. Genußvoll, Gänsehaut erzeugend bläst sie dem Mann den Rauch ins Gesicht, macht schließlich die Haare auf und schüttelt den Kopf. Ein Moment der fiebrigsten Spannung. Und während der ganzen Szene befindet sich eine Hausangestellte im Zimmer, wie die Kamera am Schluß noch einmal klarmacht.

Im Oktober vergangenen Jahres wartete Manoel de Oliveira in der Lissaboner Kinemathek mit einer Premiere auf: in engstem Kreis stellte er einen 1981 entstandenen 70minütigen autobiografischen Film vor, "Visita ou Memorias e Confissoes". Außerdem hat der große Meister geplant, in den nächsten Monaten die Dreharbeiten zu seinem neuesten Werk "Caixa" abzuschließen.
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