Der Junge und die Welt

Zeichentrick | Brasilien 2013 | 83 Minuten

Regie: Alê Abreu

Ein kleiner Junge aus Brasilien muss seinen Vater widerwillig in die Stadt ziehen lassen, wo dieser Arbeit zu finden hofft. Voller Trauer und Sehnsucht reist er ihm nach und erlebt quasi im Schnelldurchlauf die Verwandlung einer agrarischen Welt in einen industriellen Moloch. Eine komplexe Fabel sowohl für Erwachsene als auch für Kinder, bei der Töne und Bilder eine geradezu magische Symbiose eingehen. Der meisterhafte Animationsfilm lebt vom prächtigen Spiel mit Formen, Farben und Bewegungen, wobei die Inszenierung die Möglichkeiten des Trickfilms zwischen Realität, Gegenwart und Erinnerung, Abstraktion und Details nutzt, um zwischen der Freude am Schauen und den gesellschaftskritischen Aspekten zu vermitteln. - Sehenswert ab 8.
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Filmdaten

Originaltitel
O MENINO E O MUNDO
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Filme de Papel
Regie
Alê Abreu
Buch
Alê Abreu
Musik
Ruben Feffer · Gustavo Kurlat
Schnitt
Alê Abreu
Länge
83 Minuten
Kinostart
17.12.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 8.
Genre
Zeichentrick
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IMDb | TMDB

Meisterhafter Animationsfilm um einen kleinen Jungen, der im Schnelldurchlauf die Verwandlung seiner paradiesischen Welt in einen Industrie-Moloch erlebt.

Diskussion
Wie sehr sind wir es gewöhnt, dass Filme uns ihre Geschichten durch Dialoge erzählen! Und dann kommt ein Film wie Alê Abreus „Der Junge und die Welt“, ein prächtiges animiertes Spiel aus Formen, Farben und Bewegungen, in dem nur eine Fantasie-Sprache gesprochen wird. Man muss sich auf die Bilder einlassen, deren Sog folgen und sich sehr konzentrieren. Denn alles vermittelt sich hier durch die Bilder, durch kleine Details – und die Musik. Als der Vater eines Tages seine Familie verlassen muss, um in der Stadt Arbeit zu suchen, ist der Junge zu Tode betrübt. Verzweifelt umklammert er das Bein des Vaters. Aber es hilft nichts. Dort, auf dem Land in Brasilien, gibt es für den Vater keine Möglichkeit, genug Geld für den Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Um den Jungen zu trösten, spielt er ihm noch einmal ein paar Takte auf seiner Blockflöte vor. Wenn der Vater diese Melodie spielt, das weiß der Junge nur allzu gut, dann fliegen die Noten in Form orangefarbener Punkte tänzelnd in den Himmel. Eine Note gar konnte er einmal fangen. In einer alten Blechdose hat er sie eingesperrt und im Feld vergraben. Diese einfache, fröhlich stimmende Melodie wird den Jungen begleiten. Denn bald nach der Abreise des Vaters wird es auch den Jungen nicht mehr zu Hause halten. Bald steigt er in den Zug und reist fort, um seinen Vater zu suchen. Was der Junge auf seiner Reise erlebt, ist ein Abbild der gesellschaftlichen Situation in Brasilien – und vieler moderner Gesellschaften – im Schnelldurchlauf. Er trifft auf Wanderarbeiter, die Abreu nur in unzähligen gleichförmigen Miniaturen veranschaulicht und die im Rhythmus der Industrialisierung ihre Arbeit verrichten, er gerät in einen Großstadtmoloch voller Baustellen und Verladestationen, in eine weitere Metropole, die an eine futuristische Utopie erinnert, er landet mitten in einem ausgelassenen Karnevalsumzug. In diesen Szenen liegt ein großer Zauber, weil das Schöne, das Erschreckende, das Faszinierende Hand in Hand gehen. Und immer zeigt Abreu es aus der Sicht des unschuldigen Kindes. Kräne sehen aus wie Drachen, Züge scheinen Pfeife zu rauchen, Schiffe haben die Form von Schwänen: Antropomorphe Maschinen, belebt durch die Fantasie des Jungen. Die Möglichkeiten des Animationsfilms, fließend zwischen Traum und Realität, Gegenwart und Erinnerung, Abstraktion und Details zu wechseln, werden meisterhaft genutzt. Dass der weitgehend in Handarbeit hergestellte Animationsfilm ohne Drehbuch entstanden ist, merkt man ihm durchaus an. Es fehlt an einer stringenten Geschichte, an Wendungen, an Entwicklungen der Figur. Aber gerade aus dem Mäandernden, Fließenden, Assoziativen bezieht „Der Junge und die Welt“ seine Kraft. Als Identifikationsfigur funktioniert der Junge schon allein deshalb, weil er so abstrakt gezeichnet ist. Aber auch, weil seine Motivation so nachvollziehbar ist. Er will seinen Vater wiederfinden – und muss lernen, mit der Enttäuschung umzugehen, als er erkennt, dass es viele Schicksale wie das seiner Familie gibt. Naiv ist der Film nie. Auch wenn er die Hoffnung nicht aufgibt. Nur zum Ende hin überwiegt ein wenig das Thesenhafte. Auf einmal taucht Kriegsmaschinerie auf, ein schwarzer und ein bunter Vogel kämpfen gegeneinander. Danach folgen Armut, Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung. Diese Szenen entwickeln sich nicht mehr so organisch wie jene zuvor. Die großen gesellschaftlichen Themen, sie sind hier – wenngleich eindrucksvoll animiertes – Pflichtprogramm. Bis der Film in einer schnell geschnittenen Montagesequenz gar nur noch Realbilder aneinanderreiht und die Animationsebene vollständig verlässt. Sind die einfachen Figuren und die farbenfrohen Bilder das klassische Erkennungsmerkmal eines Kinderfilms, so richtet sich die komplexe Geschichte, die sich dahinter verbirgt, eher an Erwachsene. Dennoch erzählt Abreu weder über Kinder hinweg noch nimmt er Erwachsene nicht ernst. Sein Film ist eine Fundgrube für Zuschauer jeden Alters. Wie die Töne und die Bilder hier eine magische Symbiose eingehen, in der die eine Ebene die jeweils andere verstärkt, so können hier auch kindliche und erwachsene Wahrnehmungen aufeinandertreffen und ein neues Gesamtbild erschaffen. In diesem geht es dann um beides: Um gesellschaftskritische Aspekte. Und um die Freude, wenn ein Strichmännchen mit einem runden Kopf, roten Bäckchen, drei Haaren und langen, ovalen Augen zu leben beginnt und das Publikum dazu einlädt, mit ihm die Welt in all ihren Facetten zu entdecken.
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