Wien vor der Nacht

Dokumentarfilm | Frankreich/Deutschland/Österreich 2016 | 74 Minuten

Regie: Robert Bober

Dokumentarfilm-Essay über jüdische Lebenskultur in Wien und ihre Auslöschung durch den Holocaust. Der Filmemacher begibt sich auf eine Spurensuche nach einem eigenen Ahnen, der bereits vor Hitlers Machtergreifung verstarb, und zieht literarische Quellen u.a. von Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig zu Rate, um den großen Bruch durch die Shoah zu überbrücken. Der von einem klugen Off-Kommentar zusammengehaltene Film stimmt mit Hilfe von Archivmaterial und Passagen durch das gegenwärtige Wien ein Klagelied um das Verlorene an, ist zugleich auch eine vitale Hommage an die jüdische Kultur im Wien „vor der Nacht“. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
VIENNE AVANT LA NUIT | WIEN VOR DER NACHT
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Les Films du Poisson/Riva Filmprod./KGP Kranzelbinder Gabriele Prod.
Regie
Robert Bober
Buch
Robert Bober
Kamera
Giovanni Donfrancesco
Musik
Denis Cuniot · Yom
Schnitt
Catherine Zins
Länge
74 Minuten
Kinostart
09.03.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 frz. & dt.)
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Eine jüdische Familiengeschichte im Schatten der Shoah

Diskussion
„Ah! Wir sind in Wien! Im Jahr 1900. Ändern wir das Kostüm. 1900! Wir sind in der Vergangenheit. Ich vergöttere die Vergangenheit. Die ist so viel beruhigender als die Gegenwart! Und so viel sicherer als die Zukunft...“ Regisseur Robert Bober leiht sich für den Einstieg in seinen dokumentarischen Essay einen Ausschnitt aus Max Ophüls’ Schnitzler-Verfilmung „Reigen“ (1950, (fd 986)). Dabei geht es ihm eigentlich um eine ganz persönliche Familiengeschichte, nämlich die seines Urgroßvaters Wolf Leib Fränkel, der 1853 als Jude in einem polnischen Dorf geboren wurde, Anfang des 20. Jahrhunderts nach einer verhinderten Emigration in die USA in der Wiener Leopoldstadt Fuß fasste und dort 1929 starb. Doch die Spuren von Fränkels Lebensgeschichte sind spärlich; wie der Großteil seiner umfangreichen Familie verlieren sie sich im Holocaust. Bober versucht, den Bruch inszenatorisch mit Hilfe der Literatur zu überwinden: Er „liest“ die Historie seiner Familie vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte und lässt die Stimmen jüdischer, mit Wien verbundener Autoren wie Schnitzler, Stefan Zweig und Joseph Roth die Grabesstille vertreiben, die seine Verwandten mundtot gemacht hat. Aus den literarischen Zitaten, aus Archivfotos und -filmen, zum Teil aus Zeichnungen (wenn es darum geht, Fränkels erste Lebenshälfte in Polen zu rekonstruieren), aus Passagen durchs gegenwärtige Wien sowie dem Off-Kommentar des Regisseurs rundet sich allmählich ein Gesamtbild, das gleichermaßen ein Kaddisch ist: ein Klagelied für die Toten, eine Hommage an die vitale jüdische Kultur im Wien (und Europa) „vor der Nacht“. Wolf Leib Fränkel selbst war kein Opfer der Shoah. Er starb, lange bevor Hitler in Wien Einzug hielt und die Massen auf dem Heldenplatz ihm zujubelten. Auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“ findet sich immerhin ein Grabstein des Ahnen. Einer der Orte, an die der Film immer wieder zurückkehrt, ist der alte jüdische Friedhof in Wien. Es ist ein „guter Ort“, nicht nur, weil die wuchernde Natur und die herumstreifenden Tiere tröstlich wirken, sondern vor allem weil die Menschen, die dort beerdigt liegen, vor der Terrorherrschaft der Nazis starben. Die meisten anderen Fränkels, die der Film auf einem Familienporträt vorstellt, das anlässlich des 75. Geburtstags des Patriarchen kurz vor dessen Tod entstand, hatten weniger Glück. Im jüdischen Museum von Wien betrachtet Bober Kultgegenstände, die aus den niedergefackelten Synagogen geborgen wurden. Vielleicht hat Wolf Leib Fränkel einige davon hergestellt: In Polen als Leuchtermacher ausgebildet, fasste er in Wien als Blechschmied Fuß und etablierte sich im jüdisch geprägten Stadtteil Leopoldstadt, sodass er seine Familie nachholen konnte. Zwei Leuchter aus der Hand seines Urgroßvaters befinden sich in Bobers Besitz – Gegenstände, die als Brücke in die Vergangenheit funktionieren. Mit ihrer Lichtsymbolik verdeutlichen sie Bobers Ziel, die Düsternis des Völkermords mittels Erinnern zu erhellen und somit die Toten präsent zu halten. Ähnlich wie die Erzähler-Figur in Ophüls’ „Reigen“ schlüpft der Regisseur dabei in die Rolle eines „Cicerone“, der persönlich wie literarisch versiert die verschiedenen Elemente zu einer geschlossenen Erzählung verdichtet. Der 1931, zwei Jahre nach Fränkels Tod, in Berlin geborene und seit 1933 in Frankreich beheimatete Bober verdiente seine Sporen als Assistent von François Truffaut („Sie küssten und sie schlugen ihn“, „Jules & Jim“); seit den späten 1960er-Jahren dreht er Dokumentarfilme, die sich vor allem am Holocaust und am Gedenken an jüdische Lebenswelten abarbeiten. Mit „Wien vor der Nacht“ fügt er seinem umfangreichen Werk eine zutiefst bewegende Facette hinzu. Der so steife Begriff „Erinnerungskultur“ wird hier zu etwas höchst Lebendigem.
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