Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 77 Minuten

Regie: Till Schauder

Im Sommer 2013 übernahm der Fußballtrainer Winfried Schäfer in nahezu aussichtsloser Situation die Nationalmannschaft von Jamaika, um vielleicht doch noch die Qualifikation zur Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien zu schaffen. Der äußerst unterhaltsame und mit viel Sinn für Pointen montierte Dokumentarfilm beobachtet die musik- und fußballverrückte Kultur der Rastafaris und folgt Schäfer beim Versuch, deren Kultur zu verstehen. Parallel dazu wird die Geschichte des Stürmers „Tuffy“ Anderson erzählt, dessen Traum in Erfüllung geht, als populärer Amateur in die sonst nur mit im Ausland spielenden Profikickern besetzte Nationalmannschaft zu gelangen. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Sportsrocket Studios/Partner Pic./Till Schauder Filmprod./arte
Regie
Till Schauder
Buch
Till Schauder
Kamera
Till Schauder · Chris Valentien · Matthew Vigil
Musik
No-Maddz
Schnitt
Christoph Senn · Ramin Sabeti
Länge
77 Minuten
Kinostart
03.05.2018
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm | Sportfilm
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IMDb | TMDB

Mit viel Sinn für Pointen montierter Dokumentarfilm über das Projekt des deutschen Fußballtrainers Winfried Schäfer, die jamaikanische Nationalmannschaft zur WM 2014 zu bringen.

Diskussion

Den 7. Juni 2013 werden die Fußballfans auf Jamaika nicht so schnell vergessen. Nach zwei Unentschieden und zwei Niederlagen standen die „Reggae Boyz“, wie die Fußballnationalmannschaft dort genannt wird, bei der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien schon mit dem Rücken zur Wand. Das Spiel gegen die USA galt deshalb schon als eine Art Endspiel, wenn die Mannschaft noch eine Chance haben wollte, das Wunder von 1998 zu wiederholen, als Jamaika an der WM in Frankreich teilnahm.

Wie fußballverrückt man auf der Insel ist, belegen nicht nur die einschlägigen Fotografien von Bob Marley oder die Anwesenheit der Premierministerin in der Umkleidekabine, sondern auch der Umstand, dass am Tag der Qualifikation für die 1998er WM auf der Insel kein Schuss fiel. Was in einem Land mit einer respektheischenden Kriminalitätsrate schon etwas heißen will!

Das Spiel gegen die USA am 7. Juni 2013 ging dann denkbar unglücklich in der Nachspielzeit mit 1:2 verloren, weshalb der Nationaltrainer Theodore Whitmore, einer der Helden von 1998, sogleich seinen Rücktritt erklärte. Als Nachfolger wird, der Film von Till Schauder wechselt hier gewissermaßen von der erzählten Vorgeschichte ins Präsenz, kurz darauf Winfried Schäfer präsentiert, ehemals eine Trainerinstitution in Karlsruhe und seither ein Weltreisender in Sachen Fußball. Schäfer schaute zu diesem Zeitpunkt auf eine wechselvolle Karriere mit Stationen in Thailand und Aserbaidschan zurück; er hatte aber die Nationalmannschaft von Kamerun zur Afrikameisterschaft, zur WM 2002 und ins Finale des Confed-Cups 2003 geführt.

In Jamaika löst seine Berufung eine kleine Euphorie aus: ein bekannter Name, ein Profi, ein effizienter Deutscher: „Das Team wird laufen wie eine geölte Maschine!“ Warum die Mannschaft bis dato eher gestottert hat, wird dagegen mit der Vorliebe des Vorgängers Whitmore für „Legionäre“ interpretiert. Der Ex-Coach hatte ausschließlich auf Spieler gesetzt, die in den Profiligen im Ausland ihr Geld verdienen. Schäfer hingegen lässt sich überzeugen, auch Fußballer zum Zug kommen lassen, die in der jamaikanischen Amateurliga spielen, denn die, so weiß die Küchenpsychologie der Fangemeinde, müssten auch im Falle einer sportlichen Blamage wieder heim in ihre Community, was mit Sicherheit motivierend wirke.

Einer dieser sehr populären Amateure ist der Stürmer Jermaine „Tuffy“ Anderson, der tagsüber in der Stahlindustrie schuftet, in der Freizeit aber als echter Torjäger ein Liebling seines Stadtteils Waterhouse ist. Schäfer nominiert „Tuffy“, obschon dessen körperliche Fitness nicht für ein 90-minütiges Fußballspiel internationalen Zuschnitts reichen wird. Für diesen Mut, der auf Jamaika ein hochsymbolisches Zeichen setzte, wird Schäfer später auch noch belohnt werden.

Der Dokumentarist Till Schauder hat Schäfer bei seinem erklärten Versuch begleitet, aus einer „mission impossible“ eine „mission possible“ zu machen. Gleichzeitig skizziert der Film die Geschichte von „Tuffy“ Anderson und lässt sich von der kecken, stets etwas ironischen Reggae-Band No-Maddz in die Musik und die Fußballverrücktheit der Jamaikaner einführen.

Der Film „Reggae Boyz“ präsentiert zwar keine komplexe Analyse der jamaikanischen Gegenwart, zählt dafür als Dokumentation eines komplexen „Culture Clash“ (Bundesliga/Jamaika, Jamaika/FIFA-WM, Amateurfussball/Profi-Fussball, Fussball/Musik) zweifelsohne zu einer der unterhaltsamsten und fröhlichsten Dokumentationen der letzten Zeit. Die Kamera fängt höchst erstaunliche Momente ein, wenn der betont lässige Schäfer auf die ganz andere Form jamaikanischer Lässigkeit trifft und das Gespräch mit den Menschen und ihrer Kultur sucht, Reggae hört und die Musik von Bob Marley für sich entdeckt.

Eine Überraschung ist die persönliche Begegnung mit dem legendären Musiker und Marley-Weggefährten Bunny Wailer, der Schäfer segnet und ihn in die Philosophie der richtigen „Kräuter“-Anwendung einweiht, bevor er beschwingt ein paar Kunststücke mit dem unsichtbaren Ball zeigt und aus dem Bild tanzt. Schön ist auch, dass immer mal wieder jemand vor die Kamera springt und spontan ein paar Reime abfeuert, was bestens zum leicht schrägen „Vibe“ des Films passt. Vieles scheint hier möglich zu sein. Hinreißend auch die Szenen, in denen Schäfer das psychologische Einzelgespräch mit den Spielern sucht, nach „Men with Eggs, äh, Balls“ sucht und Taktik schlussendlich Taktik sein lässt.

Schäfer gelingt es, die „Reggae Boyz“ zumindest kurzzeitig im Rennen um die WM-Qualifikation zu halten. Alles läuft auf das entscheidende Rückspiel gegen die USA im Oktober 2013 hinaus, deren Trainer Schäfer noch aus der Bundesliga kennt: Jürgen Klinsmann. Wie die Begegnung damals ausging, ist längst Geschichte, mithin Legende. „Tuffy“ Anderson wurde vielleicht tatsächlich zum Vorbild der jamaikanischen Jugend; der Fußball der „Reggae Boyz“ erlebt in der Folge eine kurze Blüte mit erstaunlichen Erfolgen. Schäfer arbeitete bis Oktober 2016 auf Jamaika, bis seiner Mannschaft die Qualifikation zur WM 2018 misslang. Seither ist er anderswo tätig: im Iran!

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