Los Versos del Olvido - Im Labyrinth der Erinnerung

Drama | Frankreich/Deutschland/Niederlande/Chile 2017 | 92 Minuten

Regie: Alireza Khatami

Ein alter Mann arbeitet im Leichenschauhaus auf einem südamerikanischen Friedhof. Die Spuren von Diktatur und staatlichem Terror sind in der jungen Demokratie noch immer spürbar, auch wenn sich die Gesellschaft ins Vergessen flüchtet. Als der Alte von einer Todesschwadron überfallen wird, entschließt er sich, aktiv gegen die kollektive Amnesie anzugehen. Der poetische Film verbindet auf meisterhafte Weise politische Motive mit magischem Realismus und einer kafkaesk-grotesken Atmosphäre. Der Friedhof und das Leichenschauhaus werden darin zu Metaphern für eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit nicht bewältigt und keinen Frieden findet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LOS VERSOS DEL OLVIDO | OBLIVION VERSES
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Niederlande/Chile
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
House on Fire/Endorphine Prod./Lemming Film/Quijote Rampante
Regie
Alireza Khatami
Buch
Alireza Khatami
Kamera
Antoine Héberlé
Schnitt
Florent Mangeot
Darsteller
Juan Margallo (Hausmeister im Leichenschauhaus) · Tomás del Estal (Bestatter) · Manuel Morón (Leichenwagenfahrer) · Itziar Aizpuru (Alte Frau) · Julio Jung (Archivar)
Länge
92 Minuten
Kinostart
12.07.2018
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Sabcat Media/goodMovies (16:9, 1.78:1, DD5.1 span.)
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Poetisches Drama über einen alten Mann, der in einem Leichenschauhaus auf einem südafrikanischen Friedhof arbeitet und beginnt, gegen das kollektive Vergessen der Diktatur-Verbrechen anzugehen.

Diskussion

Ein Land, irgendwo in Südamerika. Über der Hauptstadt liegt der Friedhof. Dort arbeitet ein namenloser alter Mann im Leichenschauhaus. Die Zeit der Diktatur und der brutalen Unterdrückung ist vorbei; jetzt soll alles vergessen werden. Auch der Alte hat eine Vergangenheit, an die er sich nicht mehr erinnern möchte, die aber immer gegenwärtig ist. Fotos und Dokumente lassen ihn immer wieder an seinen Sohn denken, dessen Namen er nicht mehr nennen mag. Auch er verschwand in den Jahren des Terrors.

Viele Einwohner des Landes haben Gedächtnislücken. Etwa der zuvorkommende Mann mit dem sympathischen chilenischen Akzent, der sich bei der Suche nach einem Grab verlaufen hat. Der Alte erkennt ihn, sie waren zusammen im Gefängnis. Drei Menschen habe er getötet, weshalb er zu lebenslanger Haft verurteilt worden sei. Warum er dann trotzdem so früh entlassen worden sei, fragt der Besucher. Er habe sich im Gefängnis nützlich gemacht und die Leichen der politischen Häftlinge in den Massengräbern mit Kalk überschüttet, sagt der Alte. Da verflucht ihn der andere und geht.

Das Land ist voller Geschichten über Tod und Verrat, Exil und Terror. Geschichten, die zum Teil auch in den verwahrlosten Katakomben des Friedhofsarchivs lagern, in einem Labyrinth des Schreckens, in dem es nicht einmal elektrisches Licht gibt.

Für den alten Mann vergehen die Tage eintönig und ohne Abwechslung. Immer weniger Menschen kommen und suchen nach ihren verschwundenen Angehörigen; nur manchmal werden die gekühlten Leichname noch identifiziert und ein „identificado“ in die Eingangsakte gestempelt. Der Alte hat kaum noch Freunde, nur den blinden Totengräber und den traurigen Fahrer, der von der Welt außerhalb des Friedhofs erzählen kann, von Unruhen und Protesten in der großen Stadt.

Doch die Zeiten ändern sich. Längst hat am anderen Ende der Stadt ein neues Leichenschauhaus geöffnet; in den Fernsehnachrichten hört man, dass sieben Wale an der Küste gestrandet seien und nicht mehr ins Meer zurückschwimmen könnten. Auch die Routine des Alten wird jäh unterbrochen. Im Leichenschauhaus überfallen ihn vermummte Schläger, vielleicht eine Todesschwadron, die Spuren verwischen und Leichen verschwinden lassen will. Sie verschleppen den alten Mann in die Dünen, werfen ihn aus dem Auto, töten ihn aber nicht. Seine Freunde raten ihm, sich einfach an nichts mehr zu erinnern; nur so könne er sein Leben retten.

Mit dieser Versicherung, sich an kein Gesicht und kein Detail des Überfalls zu erinnern, schickt ihn die Friedhofsverwaltung in den vorzeitigen Ruhestand. Es scheint, als würde der alte Mann die Friedhofsmauern endgültig hinter sich lassen. Doch dann entdeckt er, dass die Leiche einer jungen Frau in den Kühlkammern liegen geblieben ist. Ihr will er ein würdiges Begräbnis geben. Damit sie auf dem Friedhof begraben und nicht im anonymen Massengrab verscharrt wird, muss er allerdings ihre Identität fälschen.

Der Debütfilm des iranischen Regisseurs Alireza Khatami verbindet auf meisterhafte Weise politische Motive mit magischem Realismus und einer kafkaesk-grotesken Atmosphäre. Friedhof und Leichenschauhaus sind Metapher für eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit verdrängt und verscharrt hat, aber trotzdem keinen Frieden findet. Dem französischen Kameramann Antoine Héberlé gelingen beeindruckende, oftmals sehr überraschende Bilder, wenn der alte Mann etwa die Wale vom Friedhof aus über die Hauptstadt fliegen sieht oder wenn im Morgengrauen eine riesige steinerne Hand aus dem Sand ragt. Inszenatorisch glänzt der Film mit knappen elliptischen Sequenzen, wenn der Friedhofswärter von den Todesschwadronen entführt wird oder ein Erdbeben durch einen wackelnden Gartentisch mit einem umstürzenden Wasserglas verdeutlicht wird.

Auch die drei Hauptdarsteller beeindrucken durch ihre zurückgenommene Spielweise: Juan Margallo als alter Mann, Tomás del Estal als blinder Totengräber und Manuel Morón als zaudernder Leichenwagenfahrer. In Erzählrhythmus und Atmosphäre erinnert „Los Versos del Olvido“ an Klassiker des iranischen wie des lateinamerikanischen Kinos, insbesondere an „Post Mortem“ (2010) von Pablo Larraín über ein Leichenschauhaus während der Pinochet-Diktatur.

„Los Versos del Olvido“ (wörtlich etwa: Die Strophen des Vergessens) erzählt poetisch eindringlich über das Weiterleben um den Preis des Vergessens und verbindet dabei überzeugend eine melancholische Grundstimmung mit Momenten von grotesker Absurdität und schwarzem Humor. Durch sein dichtes Netz fantasievoller Assoziationen entfaltet sich der Film als universelle Parabel über den Umgang mit Tod, Verlust und staatlichem Terror.

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