Drama | Deutschland/Italien 2018 | 120 Minuten

Regie: Ulrich Köhler

Ein wenig erfolgreicher Kameramann kehrt von Berlin in die ostwestfälische Provinz zurück, als seine Großmutter im Sterben liegt. Als er dort eines Morgens erwacht, ist die Menschheit verschwunden. Mit Anleihen bei und Varianten von einschlägigen Genre-Vorbildern und psychologischen Tiefenbohrungen entwirft die schillernde Robinsonade eine visuell bestechende postapokalyptische Fantasie, die mit großer filmischer Souveränität eine Studie von Männlichkeit zwischen Depression, Neubeginn, Selbstentwurf und Scheitern entwickelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
IN MY ROOM
Produktionsland
Deutschland/Italien
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Pandora Filmprod./Echo Films/Komplizen Film/WDR/arte
Regie
Ulrich Köhler
Buch
Ulrich Köhler
Kamera
Patrick Orth
Schnitt
Laura Lauzemis
Darsteller
Hans Löw (Armin) · Elena Radonicich (Kirsi) · Michael Wittenborn (Vater) · Ruth Bickelhaupt (Großmutter) · Emma Bading (Rosa)
Länge
120 Minuten
Kinostart
08.11.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Science-Fiction
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Pandora (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Ein Mann erwacht eines Morgens und entdeckt, dass die Menschheit verschwunden ist. Intelligentes Spiel mit Genre-Versatzstücken und psychologischen Tiefenbohrungen.

Diskussion

Es kann jedem Journalisten einmal passieren, dass das Aufnahmegerät versagt. Aus der simplen Transkription eines Interviews wird so ein von Fantasie befeuertes Gedankenprotokoll, das das „Gespräch“ in der Postproduktion unter Umständen sogar „verbessert“. Passiert dasselbe mit einer Kamera, kann daraus ein Verfremdungseffekt resultieren, der Alexander Kluge bestimmt gefallen würde. „In My Room“ von Regisseur Ulrich Köhler beginnt mit so einem Missgeschick im Deutschen Bundestag, der in gewisser Weise sinnbildlich für die desorientierte Lebenssituation der Kameramanns Armin ist: Der 40-Jährige ist buchstäblich „out of focus“, das abgedrehte Material ist für das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht zu gebrauchen.

Es steht zu hoffen, dass es Armin einmal besser ergangen ist, denn aktuell sieht es eher prekär aus: Kein Geld, auf der Arbeit Ärger, im Techno-Club Berghain eher der Älteste, und selbst der schon sicher geglaubte One-Night-Stand mit der viel zu jungen Tochter einer Ex scheitert an Eigenheiten, wie man sie vielleicht entwickelt, wenn man zu lange in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt. Den Soundtrack zu dieser Szene liefern die „Pet Shop Boys“: „Wait till later“.

Als seine Großmutter im Sterben liegt, fährt Armin nach Hause, was seinem Vater nicht unbedingt passt. In der freudlosen Muffigkeit der ostwestfälischen Provinz scheint Armin besser klar zu kommen; sein Handeln zeugt hier von Empathie und Routine, wenngleich ihn der alte Hund des Nachbarn nicht mehr erkennt. Einerseits kann Armin wieder Sohn und Enkel sein. Andererseits sind seine Eltern geschieden. Die Mutter hat es zum Chorgesang verschlagen; der Vater hat eine neue Freundin, die fleischlos kocht und wissen will, ob Armin es beruflich zu etwas gebracht habe. Und dann sagt der Vater nicht nur, dass er jetzt endlich wieder Sex hat, sondern auch Sachen wie: „Du, deine Mutter ist eine tolle Frau. Vielleicht habe ich nur mal jemanden gebraucht, der mich liebt!“

Das sind lauter Puzzleteilchen, die Armins Figur konturieren und zugleich seiner schlechten Laune einen Grund verleihen. Doch Armin bekommt eine zweite Chance, zunächst als Solo-Projekt. Als er eines Morgens aufwacht, ist die Menschheit verschwunden. Nach dem ersten Erschrecken – der Film findet viele schöne Bilder für die Menschenleere: ein Partyschiff treibt still den Fluss hinab, Motorroller liegen auf den Straßen, es gibt keine Leichen – unternimmt Armin einen Selbstmordversuch, der glücklicherweise misslingt, denn Armin hat Potenzial für ein Leben in der Post-Apokalypse.

In der Folge blättert der Film im Katalog einschlägiger Genrebilder und bietet zugleich reichlich Material für die „male studies“. Zunächst als Spaß, wenn Armin auf einer Reise Richtung Süden in Südtirol die Gelegenheit ergreift, sich mit einem Lamborghini auszutoben. Nicht etwa über die Brenner-Autobahn, sondern durch kleine Bergdörfer voller Hindernisse, bis ein Unfall in einem Tunnel den wilden Ritt beendet. Auf die Dynamik der freien Fahrt für freie Bürger folgen dann aber – der Film geht sehr frei mit der erzählten Zeit um, rafft und strafft, arbeitet mit Brüchen und Ellipsen – Downsizing und entschleunigtes Tempo.

Mit Geschick und Erfolg betreibt Armin später Ackerbau und Viehzucht, wird zum Bastler, der auch mal ein Wasserkraftwerk in Angriff nehmen kann. Körperlich ist er jetzt deutlich besser unterwegs und scheint an der Rolle des Robinson auch Gefallen zu finden, wenngleich das Leben als „last man on earth“ durchaus Risiken birgt, falls man sich verletzt oder erkältet.

Als „Robinson“ Armin einmal mit seinem Pferd von einem Hund attackiert wird und in ein Flussbett stürzt, ist unvermittelt „Freitag“ mit einer Taschenlampe zur Stelle. Freitag ist hier eine italienische High-Tech-Nomadin namens Kirsi, die dem erkälteten Einsiedler eine lindernde Hühnersuppe kocht. Die beiden verbringen einige Zeit zusammen, sprechen und schlafen auch miteinander, bleiben einander aber letztlich fremd, was nicht nur an der Sprachbarriere liegt, sondern auch daran, dass beide Figuren ihre Geschichte haben und Erfahrungen mit sich tragen, mit denen zu rechnen ist.

Während Armin recht zufrieden damit ist, dass ihn das Verschwinden der Menschheit aus dem Berliner Elend befreit und in die Lage versetzt hat, sich als König in der Welt seiner Kindheit eher recht als schlecht zu etablieren, gelingt Krisis eine solche Selbstentfaltung deutlich schlechter. Der Film wertet diese unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht, wenngleich ihre wechselseitige Souveränität die Menschheit wohl um den möglichen Neubeginn in Gestalt eines „aufgeklärten“ Patriarchalismus bringt. Kirsis letzte Worte erinnern an den Songs der „Pet Shop Boys“. Auch in der Post-Apokalypse hat Armin weiterhin wenig Glück bei den Frauen.

Neben der mehr als beeindruckenden Leistung von Hans Löw als Armin kann man über „In My Room“ nicht reden, ohne die Kameraarbeit von Patrick Orth zu preisen, der für die beiden Teile des Films, die spät als „Winter“ (Berlin, Elternhaus) und „Sommer“ (danach) bezeichnet werden, ideale Bilder und Farblösungen gefunden hat. Orths Kamera trägt auch einen gewichtigen Anteil daran, dass die schillernde Robinsonade über Depression, Apokalypse, Neubeginn und Scheitern stets auch ein intelligentes Spiel mit Genre-Versatzstücken und psychologischen Tiefenbohrungen bleibt. Wer müsste nicht lächeln, wenn er in diesem sehr deutschen Film über Deutschland sieht, wie sich die Natur die Discounter-Wüsten an den Rändern der Städte zurückerobert?

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