Drama | Norwegen 2018 | 98 Minuten

Regie: Erik Poppe

Am 22. Juli 2011 überfällt ein rechtsradikaler Attentäter ein Jugendlager auf der norwegischen Insel Utøya und tötet binnen einer Stunde 69 Menschen. Die fiktionale Aufarbeitung des Massakers vergegenwärtigt das grausame Geschehen in einer durchgängigen Sequenz ohne sichtbare Schnitte, wobei sich der Film auf eine junge Frau als Identifikationsfigur konzentriert. Die filmische Perspektive, die Hintergründe und Folgen des Anschlags ausklammert, erweist sich in ihrer formalen Brillanz als ebenso problematisch wie die Annäherung an Stereotypen des Spannungskinos. Gleichwohl findet der Film durch die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit von Regie, Drehbuch und Darstellern zu anrührenden Szenen der Mitmenschlichkeit, die dem Schrecken wehren und eine Botschaft der Hoffnung artikulieren. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UTØYA 22. JULI
Produktionsland
Norwegen
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Paradox Film 7
Regie
Erik Poppe
Buch
Siv Rajendram Eliassen · Anna Bache-Wiig
Kamera
Martin Otterbeck
Schnitt
Einar Egeland
Darsteller
Andrea Berntzen (Kaja) · Elli Rhiannon Müller Osborne (Emilie) · Sorosh Sadat (Issa) · Aleksander Holmen (Magnus) · Solveig Koløen Birkeland (Verletztes Mädchen)
Länge
98 Minuten
Kinostart
20.09.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die DVD/BD-Edition enthält eine Einführung des Regisseurs in den Film, ein "Making-of" (22 Min.) sowie kleine Interviews mit Hauptdarstellerin Andrea Berntzen und Regisseur Erik Poppe (6-7 Min.).

Verleih DVD
Weltkino (16:9, 1.85:1, DD5.1 norw./dt.)
Verleih Blu-ray
Weltkino (16:9, 1.85:1, dts-HDMA norw./dt.)
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Fiktionale Aufarbeitung des Massakers auf der norwegischen Insel Utøya, bei dem ein rechtsradikaler Attentäter 69 junge Menschen erschoss.

Diskussion

Der Blick ist durchdringend und frontal in die Kamera gerichtet, die Schwere des Folgenden bereits in dieser Einstellung eingeschrieben. „Das wirst du nie verstehen“, lautet der erste Satz der 19-jährigen Kaja, insistierend gesprochen wie eine Einweisung der Zuschauer. In der dargestellten Situation ist er zunächst allerdings Teil des Versuchs, ihre Mutter am Telefon zu beruhigen. Es ist der Spätnachmittag des 22. Juli 2011. Zwei Stunden zuvor ist in Oslo eine Autobombe explodiert, die acht Menschen tötet. Auch Kaja ist sichtlich aufgewühlt, verlässt sich aber auf den vermeintlichen Schutz, den ihr das Sommerlager auf der Insel Utøya bietet. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, versichert Kaja ihrer Mutter. Die anderen Jugendlichen teilen ihre Meinung: In dieser Situation sei eine Insel der sicherste Ort überhaupt.

Der norwegische Regisseur Erik Poppe zeigt am Anfang von „Utøya 22. Juli“ die letzten Minuten einer trügerischen Ruhe, bevor die Hölle losbricht. Gerade haben Kaja und andere junge Menschen noch über die Hintergründe des Oslo-Anschlags gemutmaßt, als sie sich unversehens inmitten panischer Jugendlicher befinden, die schreiend davonrennen, Schutz suchen und immer weiter flüchten. Hinter ihnen manifestiert sich die Bedrohung in kurzen Abständen durch markerschütternde Schüsse. Poppe zieht den Zuschauer unmittelbar in die grausamen Geschehnisse hinein, durch welche die kleine norwegische Insel an diesem Sommertag zu trauriger Berühmtheit gelangte: Das Massaker, das der Rechtsextremist, Islamhasser und Odin-Verehrer Anders Breivik unter den Teilnehmern eines Jugend-Sommerlagers der sozialdemokratischen Partei verübte, nachdem er zuvor den Anschlag in Oslo begangen hatte.

Das Ungeheuerliche dieser Tat durchdringt den Film, der im Wesentlichen von den knapp 75 Minuten erzählt, in denen Breivik sich ungehindert auf der Insel bewegen und 69 Menschen mit gezielten Schüssen töten konnte. Der inszenatorische Ansatz ist dabei ebenso filmisch herausfordernd wie zwiespältig: Ein Nachstellen des Geschehens aus der Perspektive der Opfer, das als ungeschnittene Plansequenz präsentiert wird.

Dem nur schemenhaft sichtbaren Mörder will der Film dabei so wenig Raum wie möglich einräumen, sein Name wird nicht mal in den Inserts am Anfang und am Ende genannt. Anders als bei der zur gleichen Zeit gedrehten Aufarbeitung der Terroranschläge durch den Briten Paul Greengrass („22 July“) klammern Poppe und die Drehbuchautorinnen Siv Rajendram Eliassen und Anna Bache-Wiig auch Breiviks wirre Hass-Ideologie und alle traumatischen Folgen des Angriffs für die Überlebenden, ihre Angehörigen und die gesamte norwegische Nation aus.

Stattdessen heftet sich die nervöse Handkamera von Martin Otterbeck an die Fersen von Kaja, die zur Identifikationsfigur aufgebaut wird: eine kluge, idealistische junge Frau, die sich auch im Angesicht der Katastrophe für andere verantwortlich fühlt, insbesondere für ihre jüngere Schwester. Ihr Versuch, diese im Chaos wiederzufinden, motiviert Ortswechsel, zeigt eine Reihe von erschütternden Situationen, flüchtigen Begegnungen, hilflosen Rettungsversuchen und die vergebliche Hoffnung, der Terror möge ein baldiges Ende haben.

Die Konzentration auf eine Protagonistin erweist sich jedoch schnell als problematisch, da auf diese Weise ihr Schicksal und das jener Jugendlichen, mit denen sie auf der Flucht Kontakt hat, zwangsweise mehr filmisches Gewicht erhält; die anderen Opfer des Angriffs rücken daneben in den Hintergrund. Ein zwischenzeitlicher Perspektivwechsel, wie ihn Gus Van Sant in „Elephant“ (fd 36 420) oder Denis Villeneuve in „Polytechnique“ (fd 42 683) bei Filmen über andere Massaker vollzogen haben, hätte diesen Zwiespalt möglicherweise verhindert.

Ambivalente Gefühle weckt auch die handwerkliche Virtuosität, mit der Poppe und Otterbeck die Panik der Figuren als formales Mittel übernehmen und nur ausschnitt- und momentweise Blicke auf die Gefahr zulassen. Immer wieder nähert sich „Utøya 22. Juli“ auch der Erzählweise von Horrorfilmen oder Thrillern an. Das an Filme wie „Cloverfield“ (fd 38 579) erinnernde Versteckspiel vor einem „Monster“, dessen Herkunft ebenso wie seine Motive für die Filmfiguren im Dunkeln bleiben, verleiht der Bedrohung etwas Dämonisches. Einige Szenen, bei denen der Mörder sich in unmittelbarer Nähe von Kaja zu befinden scheint, sind sogar pures Spannungskino, bei anderen kollidiert die Anteilnahme am Schicksal der Charaktere mit dem Drang, sie für irrationales Verhalten zu tadeln.

Trotz alldem erscheint „Utøya 22. Juli“ keineswegs undurchdacht oder gar zynisch. An etlichen Details zeigt sich, wie sorgfältig und gewissenhaft Poppe und die Autorinnen vorgegangen sind, um billige Sentimentalitäten oder Effekthascherei zu vermeiden. Die jungen Schauspieler agieren durchweg glaubwürdig; vor allem die Hauptdarstellerin Andrea Berntzen offenbart in aufwühlenden Sequenzen, wie Kaja an die Grenzen ihrer emotionalen und körperlichen Belastbarkeit getrieben wird, wenn sie einen völlig verstörten Jungen trösten muss oder einem sterbenden Mädchen in dessen letzten Minuten beisteht. Mitmenschlichkeit und Empathie werden so der Angst und dem Terror entgegengehalten, womit der Regisseur Erik Poppe durchaus einnehmend gegen den Schrecken dieses Tages die Botschaft der Hoffnung in Stellung bringt.

Diese wäre freilich noch überzeugender, wenn der Film sich in seiner speziellen Machart nicht letztlich doch an der perfiden Dramaturgie des Mörders orientieren und die Opfer des 22. Juli 2011 nicht ausschließlich in jenen Minuten zeigen würde, in denen sie rennend, kriechend oder schwimmend nach einem Ausweg suchten, während ihr Verfolger einem nach dem anderem das Leben nahm.

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