Drama | Türkei/Frankreich/Deutschland/Luxemburg 2018 | 95 Minuten

Regie: Çağla Zencirci

In den Hügeln an der türkischen Schwarzmeerküste wächst eine stumme Frau wild und vogelfrei auf, während ihre nichtbehinderte Schwester im Dorf traditionell erzogen wird. Als die Stumme in ihrer Hütte einen Fremden versteckt, trifft sie und ihre Angehörigen der Zorn der Gemeinschaft. Die bilderstarke Parabel deckt am Beispiel der rivalisierenden Schwestern und ihrer Sehnsüchte die Mechanismen sozialer Ausgrenzung zwischen befreiender Wut und kontemplativer Verängstigung auf. Das psychologisch stimmige, mit schlüssigen Genre-Motiven durchsetzte Sozialdrama entwirft eine kollektive Seelenlandschaft verwobener Gegensätze, in der Tabus und Mythen rigide Kontrollfunktionen übernehmen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SIBEL
Produktionsland
Türkei/Frankreich/Deutschland/Luxemburg
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Les Films du Tambour/Riva Filmprod./Bidibul Prod./Mars Prod./Reborn Prod.
Regie
Çağla Zencirci · Guillaume Giovanetti
Buch
Çağla Zencirci · Ramata Sy · Guillaume Giovanetti
Kamera
Eric Devin
Musik
Bassel Hallak · Pi
Schnitt
Véronique Lange
Darsteller
Damla Sönmez (Sibel) · Emin Gürsoy (Emin) · Elit Iscan (Fatma) · Meral Çetinkaya (Narin) · Erkan Kolçak Köstendil (Ali)
Länge
95 Minuten
Kinostart
27.12.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Arsenal/good!movies
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Diskussion

Psychologisch stimmiges türkisch-französisches Sozialdrama über eine stumme, wild aufwachsende Frau, die den Zorn der traditionellen Gemeinschaft auf sich und ihre Familie zieht. Die bilderstarke Parabel entwirft eine kollektive Seelenlandschaft verwobener Gegensätze, in der Tabus und Mythen rigide Kontrollfunktionen übernehmen.

Manchmal lebt es sich als Außenseiterin leichter. Sibel ist seit ihrem fünften Lebensjahr stumm. Sie muss kein Kopftuch tragen. Seitdem ihr ihr Vater ein Gewehr geschenkt hat, streift sie damit durch die Wälder: wild, aber auch ein wenig vogelfrei. Denn die anderen Frauen in dem türkischen Dorf scheinen nur auf einen Fehler zu lauern, der die junge Frau von der Gesetzlosen zur Aussätzigen macht.

„Sibel“ von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti ist eine bildstarke Parabel über die Genese von Ausgrenzung. Der dritte Spielfilm des türkisch-französischen Regiepaars entstand im Norden der Türkei, bei Kuşköy, in der Nähe der Schwarzmeerküste. Die Bewohner von Kuşköy (zu Deutsch: Stadt der Vögel) haben eine Sprache entwickelt, in der sie sich mit Pfeiftönen verständigen. Dabei wird das Türkische in Silben und Laute übersetzt. Ein Faszinosum, das in die ebenso beeindruckende bewaldete Berglandschaft im Hinterland des Schwarzen Meeres passt. Eine Landschaft, eine Kultur wie geschaffen für Mythen. Die sind bekanntlich auch dazu da, dass sie den Menschen, die an sie glauben, Grenzen aufzeigen, die rational nicht hinterfragt werden dürfen.

Am mythischen Ort stößt Sibel auf einen Fremden

Ein solcher Mythos ist der vom Brautfelsen. Hierher, an die höchste Stelle der Berge rund um Sibels Dorf, kamen früher die Mädchen, bevor sie heirateten. Doch seit einiger Zeit treibt dort ein Wolf sein Unwesen. Fuat, der Verlobte von Narin, die an ihrem Schicksal psychisch zerbrochen ist, soll dort vor einiger Zeit dem Raubtier zum Opfer gefallen sein. Sibel streift rund um den Felsen durch den Wald und hat sich eine Hütte gebaut, weil sie dem Wolf eine Falle stellen will. Doch zunächst stößt sie auf einen fremden Mann. Ali versteckt sich zwischen den dunklen Nadelbäumen vor dem Wehrdienst; er will nicht „für einen anderen“ in den Krieg ziehen.

Während zwischen Sibel und Ali eine sexuelle Anziehung keimt, wird unten im Dorf ihre jüngere Schwester Fatma verheiratet. Im Gegensatz zu Sibel, die von ihrem Vater die Freiheit geschenkt bekommen hat, allein durch den Wald zu streifen, zu rauchen und Auto zu fahren, muss sich Fatma anpassen. Sie trägt Kopftuch und muss darauf warten, bis eine der Familien aus den Nachbarhäusern für ihren Sohn um Fatmas Hand anhält. Zwischen den beiden Schwestern wachsen Misstrauen und Eifersucht: Sibel beneidet Fatma, dass sie im Dorf integriert ist, Fatma bewundert Sibel insgeheim für ihre unangepasste Lebensweise.

Als sich herumspricht, dass Sibel in ihrem abgelegenen Refugium einen fremden Mann untergebracht hat, trifft sie der Zorn des Dorfes. Die Frauen bespucken und verprügeln sie. Schon ist von einem „Terroristen“ die Rede. Zwei Feldjäger erkundigen sich nach dem „Deserteur“. Die Nachbarn sehen nicht nur Sibels, sondern auch ihre eigene Ehre beschmutzt und ziehen die Verlobung ihres Sohnes mit Fatma zurück.

Die Gesellschaft macht Sibel zur Vogelfreien

„Sibel“ zeigt, wie schnell man in einer von Tabus und falschen Mythen umstellten Ordnung vom Paradiesvogel zur Vogelfreien wird. Denn Sibel ist nicht nur „anders“, sie bricht auch mit dem Mythos vom Brautfelsen: Kein Wolf hat hier sein Unwesen getrieben, sondern eine Handvoll Dorfbewohner, die Fuat erschlagen haben, weil er mit Narin vor der Enge der Gemeinschaft davonlaufen wollte. Der Hass der Sittenwächter gilt mal demjenigen, der dieser Gemeinschaft entflieht, mal der, die eigentlich gerne dazugehört hätte. Und immer geht es um die Frage der Ehre.

Zencirci und Giovanetti inszenieren die Gesellschaftsparabel als Tour-de-Force-artige Ein-Frau-Performance (beeindruckend: Damla Sönmez) und mit Genre-Motiven versetztem Sozialdrama. Sowohl der Wald wie das Dorf sind widersprüchliche Orte voller Geborgenheit wie Schrecken, mit suggestiven Bildern zwischen befreiender Wut und kontemplativer Verängstigung.

Die Filmemacher konstruieren eine Welt miteinander verwobener Gegensätze, eine kollektive Seelenlandschaft, die ihr eigenes Schattenreich ist und in der psychologisch stimmig Gut und Böse in jedem Protagonisten gleichberechtigt angelegt sind. Da erzieht der Patriarch seine Tochter zur Freiheit und scheitert genauso an den engen Grenzen des Ehrbegriffs wie die Frauen, die ihresgleichen zur Anpassung prügeln wollen. Innere Gegensätze, hinter denen der Wunsch nach Freiheit steckt, nach Individualität, der aber genau dann an dem Bedürfnis scheitert, sich in der eigenen Gemeinschaft mental zu verbarrikadieren, wenn draußen ein Fremder auftaucht.

Für die Pfeifsprache arbeiteten Zencirci und Giovanetti mit einem Sprachcoach aus der Region. Womit „Sibel“ neben der metaphorischen eine investigative Ebene anbietet: abseits jeder Rationalität gibt es eben nicht nur das Märchen vom Wolf, mit dem die Einhaltung moralischer Codici kontrolliert wird, sondern auch Menschen, die sich wie Vögel unterhalten. Ganz real. 

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