Stell Dir vor, DU müsstest fliehen

Drama | Schweden/Kroatien/Österreich 2018 | 89 Minuten

Regie: Jesper Ganslandt

Ein vierjähriger Junge versucht mit seinem Vater vor einem Bürgerkrieg in seinem Heimatland Schweden nach Afrika zu fliehen. Auf dem gefährlichen Weg sind sie Gewalt, überfüllten Flüchtlingslagern und der Willkür von Schleppern ausgesetzt, noch bevor sie mit dem Mittelmeer die schwerste Hürde erwartet. Aufwühlendes, konsequent aus kindlicher Sichtweise fotografiertes und erzähltes Flüchtlingsdrama, das mit seinem Perspektivwechsel an das Mitgefühl eines europäischen Zielpublikums appelliert. Der Film besticht mit poetischer Gestaltung und eindringlichem Schauspiel, verliert über seinen formalen Experimenten mitunter jedoch die Charaktere aus dem Blickfeld. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JIMMIE
Produktionsland
Schweden/Kroatien/Österreich
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Fasad/Giants & Toys/Ostblok/Sekvenca/Swiss International
Regie
Jesper Ganslandt
Buch
Jesper Ganslandt
Kamera
Måns Månsson
Musik
Jon Ekstrand
Schnitt
Jesper Ganslandt · Mauricio Molinari · Magnus Svensson
Darsteller
Jesper Ganslandt (Papa) · Hunter Ganslandt (Jimmie) · Christopher Wagelin (Idas Vater) · Ella Wagelin (Ida) · Marita Fjeldheim Wierdal (Idas Mutter)
Länge
89 Minuten
Kinostart
07.03.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Diskussion

Aufwühlendes Flüchtlingsdrama, das einen Perspektivwechsel vollzieht und einen vierjährigen Jungen und seinen Vater vor einem Bürgerkrieg in Schweden Richtung Afrika fliehen lässt. Der konsequent aus kindlicher Sichtweise erzählte Film besticht mit poetischer Gestaltung, verliert sich aber mitunter in formalen Experimenten.

Ein Schlauchboot, irgendwo mitten im Meer. Randvoll mit Frauen, kleinen Kindern, Männern. „Schneid’ das Boot auf“, brüllt einer. Und als der, der das Messer in der Hand hält, sich nicht traut, macht er es selbst. Würde sie denn sonst jemand retten? Kurz darauf treiben sie mit ihren Schwimmwesten in der See. Kein Schiff ist in Sicht. Das Wasser kalt. Es wird dunkel. Ein kleiner Junge ruft verzweifelt nach seinem Vater. Die Kamera schwappt entlang der Wasseroberfläche auf und ab, versinkt zwischendurch immer wieder im Trüben, droht ganz unterzugehen. Ein schneidender, albtraumhaft nachhallender Ton unterstreicht die quälende, klaustrophobische Lage. Es sind beeindruckende, beängstigende Aufnahmen voller dunkler poetischer Kraft, die sich leitmotivisch durch den gesamten Film ziehen und dessen Thema sofort mit einem einzigen unerbittlichen Handstreich offenlegen: Flucht.

In mehreren Rückblenden ist anschließend zu sehen, wie der kleine Junge mit seinem Vater aus einem Kriegsgebiet aufbricht, zunächst noch mit dem Auto, dann zu Fuß und wie sie schließlich, eingepfercht mit Dutzenden anderen im Laderaum eines LKWs, über die Grenze rollen. Sie übernachten auf einem Schrottplatz, werden von Jugendlichen überfallen und ausgeraubt, von Wasserwerfern beschossen, verstecken sich in einem Maisfeld vor der Grenzpolizei, werden voneinander getrennt, landen in überfüllten, notdürftigen Flüchtlingslagern, finden zufällig in einem davon wieder zueinander. Impressionen einer Flucht.

Das Konzept ist so einfach wie genial

Aber etwas ist anders als erwartet. Der kleine Junge hat lange blonde Haare. Er und sein Vater tragen moderne Rucksäcke, westliche Kleidung, und sie sprechen schwedisch. Das Konzept von „Stell Dir vor, DU müsstest fliehen“ ist so einfach wie genial: Die Ignoranz der westlichen Welt gegenüber den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika, die Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Sterben im Mittelmeer durch einen Perspektivwechsel überwinden. Stellt euch vor, das wäre euer Junge. Stellt euch vor, bei euch zu Hause – in diesem Fall ist es Schweden – würde plötzlich ein Krieg ausbrechen und ihr müsstet fliehen, quer durch halb Europa, wehrlos, schutzlos, bis zum Mittelmeer, euer letztes Hab und Gut, den Familienschmuck, verscherbeln, das ganze Geld windigen Schleppern in die Hände drücken für einen Platz in einem veralteten, eigentlich längst schon nicht mehr seetüchtigen Boot.

Empathie wecken! Der schwedische Regisseur und Drehbuchautor Jesper Ganslandt ist nicht der erste, der das auf diese Weise versucht. Zweifellos hat er sich für seinen Film von Janne Tellers „Krieg – Stell dir vor, er wäre hier“ – einem Jugendbuch im Reisepassformat, das in Dänemark bereits 2004 und in Deutschland 2011 erschienen ist – inspirieren lassen, so wie das der Verleih beim deutschen Untertitel tat. Im schwedischen Original heißt der Film schlicht „Jimmie“, genau wie der kleine, vierjährige Junge, aus dessen Sichtweise er erzählt wird.

Diese zweite Perspektivverschiebung aber ist möglicherweise ein Wagnis zu viel. Konsequent bewegt sich die Kamera auf Höhe des Kleinkindes, zeigt von Erwachsenen oft nur Beine oder Oberkörper ohne Gesicht und verliert in unübersichtlichen Situationen den Überblick. Eine Orientierungslosigkeit, die sich auch in der Dramaturgie widerspiegelt. Die Ereignisse werden fragmentarisch aneinandergereiht. Immer wieder kommt es zu plötzlichen, unerklärlichen Handlungssprüngen, bleiben Ursachen, Entwicklungen, Zusammenhänge im Dunkeln, verwischen Traum, Erinnerung und Realität.

Szenen von einer überwältigenden Sogwirkung

Formal wirkt das mitunter berauschend. Es entstehen Szenen von einer überwältigenden, nahezu hypnotischen Sogwirkung. Etwa wenn Jimmie, als er von seinem Vater getrennt ist, im Flüchtlingslager dessen flüsternde Stimme hört, die ihm von einem Albtraum erzählt, in dem die beiden sich im Meer verlieren. Der Sound aus dem Off schwillt dabei immer bedrohlicher an. Zeitlupenlangsam öffnet sich am Ende des Flurs eine Tür, durch die schließlich Jimmies Vater wie niedergeschlagen vom Wiedersehensglück auf seinen Sohn zutaumelt.

Insgesamt aber gelingt das Experiment mit der naiv-subjektiven Narration nur teilweise. Denn neben den Momenten, in denen man mit Jimmie mitleidet, in denen einen das Mitgefühl schier zerreißt, in denen man sich nichts sehnlicher wünscht als Flüchtlingshelfer, die das Kind endlich aus dem Wasser ziehen, gibt es auch lange Phasen, in denen sich vor allem die Orientierungslosigkeit überträgt, ohne dass man sie noch wirklich mit Jimmie, seinen Emotionen, seinem Schicksal in Verbindung brächte. Es ist dann eine rein rezeptive Verunsicherung, die Empathie eher verhindert, als dass diese durch die kindliche Perspektive noch gesteigert würde.

„Stell Dir vor, DU müsstest fliehen“ verzichtet darauf, eine Vorgeschichte zu erzählen. Über Jimmies Leben vor dem Bürgerkrieg erfährt man ebenso wenig wie über dessen Hintergründe. Jimmies Mutter ist verschwunden, in den Straßen wird geschossen, sie müssen weg. Mehr weiß man nicht. Im Fokus steht einzig und allein die Flucht. Bewusst hält Ganslandt den Kontext vage, die Protagonisten anonym und austauschbar. So, als wolle er dem mehrheitlich weißen, europäischen Zielpublikum sagen: Schaut her, ihr wisst im Grunde nichts über die beiden, was sie machen, wer sie sind, woran sie glauben, aber weil sie eine helle Haut haben und blonde Haare und schicke Jacken fühlt ihr plötzlich mit ihnen mit. Und schon könnt ihr euch vorstellen, das wäret ihr, könnt ihr euch in ihre Lage hineinversetzen. Quod erat demonstrandum.

Beklemmend, zärtlich, intensiv

Diese moralische Beweisführung funktioniert zwischenzeitlich entsetzlich gut, geht am Ende aber doch nicht ganz auf. Gerade die Identitätslosigkeit der Charaktere, ihre Gesichts- und Geschichtslosigkeit nämlich sind es, die es bisweilen schwermachen, sich in sie einzufühlen. Was Jimmie und sein Vater dem entgegenzusetzen haben, ist weniger ihr äußeres Erscheinungsbild als vielmehr das eindringliche, intime Spiel ihrer Darsteller. Es sind Regisseur Ganslandt selbst und sein Sohn Hunter, die in die Rollen der beiden schlüpfen. So beklemmend, so zärtlich, so intensiv lässt sich das anders vielleicht gar nicht umsetzen. So authentisch, so nah und direkt, dass man sich gut vorstellen kann, man wäre an ihrer Stelle, auch wenn man sich das am liebsten gar nicht vorstellen möchte.

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