Der Mann auf dem Quai

Drama | Frankreich/Kanada/Deutschland 1993 | 105 Minuten

Regie: Raoul Peck

Eine haitianische Kleinstadt in den 60er Jahren. Willkür und Terror des Diktators "Papa Doc" Duvalier prägen den Alltag auch für eine Achtjährige und ihre Großmutter. Durch eine Nichtigkeit entlädt sich die latente Bedrohung. Eine sensible und zugleich intensive Studie über universelle Strukturen von Macht und Repression. In der Filmsprache des in Haiti geborenen Regisseurs gehen ästhetische Elemente verschiedener Herkunft eine reizvolle Synthese ein. (Auch O.m.d.U.; Alternativtitel: "L'Homme sur les Quais"; Fernsehen: "Der Mann auf den Quais")
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Filmdaten

Originaltitel
L' HOMME SUR LES QUAIS
Produktionsland
Frankreich/Kanada/Deutschland
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Frouma/Blue Films/Productions du Regard Montréal/Velvet
Regie
Raoul Peck
Buch
Raoul Peck · André Grall
Kamera
Armand Marco
Musik
Amos Coulanges · Dominique Dejean
Schnitt
Jacques Comets
Darsteller
Jennifer Zubar (Sarah) · Toto Bissainthe (Großmutter) · Jean-Michel Martial (Janvier) · Mireille Metellus (Tante) · Patrick Rameau (Gracieux/Sorel)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Genre
Drama
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Diskussion
Eine haitianische Provinzstadt in den 60er Jahren. Willkür und Terror sind feste Bestandteile des Alltags. Die etwa achtjährige Sarah lebt mit ihrer Tante und älteren Schwestern im Haus der Großmutter, die ein kleines Konfektionsgeschäft betreibt. Sarahs Vater war als Offizier in Ungnade gefallen und flüchtete ins Exil. Sein einstiger Gegenspieler Janvier, der Ortskommandant der "Tonton Macoutes", der berüchtigten paramilitärischen Einheiten, läßt der verbliebenen Restfamilie immer wieder seine Macht spüren. Als sich die Frau des Kommandanten bei einem Schuhkauf im Laden der Großmutter nicht angemessen behandelt fühlt, veranlaßt sie die Entladung der latenten Bedrohung. Großmutter wird geschlagen, gefoltert und verschwindet für immer im Räderwerk der Diktatur. Sarah fährt mit dem Rad zum Strand, die Waffe ihres Vaters trägt sie bei sich.

Raoul Peck, 1953 in Port-au-Prince, Haiti, geboren, weiß, worüber er in seinem Film erzählt. Als Kind verließ er seine Heimat, nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Arbeit als Journalist und Fotograf schloß er 1999 die Berliner Film- und Fernsehakademie ab. Die eigenen traumatischen Erinnerungen, die ihm von der Diktatur des "Papa Doc" François Duvalier her anhaften, fließen in seinen Film "L'Homme sur le Quais" ebenso ein wie zahlreiche Recherchen, die er in den vielen Jahren außerhalb Haitis gemacht hat. Bereits im Spielfilm "Haitian Corner" (1999), in dem er die New Yorker Population seiner Landsleute beschrieb, oder m der Dokumentation "Lumumba - der Tod des Propheten" (1991) ging Peck auf Situationen ein, die sich mittelbar auf Momente der eigenen Biografie bezogen. Bei aller persönlichen Betroffenheit geht es ihm dabei aber eindeutig nicht um eine ideologische Instrumentalisierung der Ereignisse, er strebt vielmehr eine universalisierende Darstellung der Mechanismen von Macht und Repression an. Daß dies gelingt, liegt neben der handwerklichen Solidität vor allem an der Sorgfalt bei der Auswahl der Darsteller und an der Modellierung ihrer Rollen. Hervorzuheben sind zuvorderst Jennifer Zubar als Sarah und Toto Bissainthe als Großmutter. Deren Leinwandpräsenz nämlich ist stark genug, um die Aufmerksamkeit beim Zuschauer trotz der zunächst etwas schwer nachvollziehbaren Erzählstruktur wachzuhalten. Ein Monolog aus dem Off; Rückblenden, Traumsequenzen und Haupthandlungsebene lassen sich im ersten Drittel des Films nicht leicht einordnen und erschweren die Rezeption ebenso wie eine Fülle innenpolitischer und historischer Details, deren Kenntnis kaum vorausgesetzt werden kann.

Doch es überwiegen die Stärken in diesem Film. Neben den darstellerischen Leistungen sind dies auch die dramaturgisch geschickt eingesetzten Wechselbeziehungen zwischen Innen/Außen bzw. Hell/Dunkel. Zunächst bieten Innenräume vor der allgegenwärtigen Bedrohung einen gewissen Schutz; der Anschein von Normalität in Form von Familienleben wird im Halbdunkel aufrecht erhalten. Hier ist man unter sich und versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Die Willkür vollzieht sich zuallererst draußen, in der feindlichen Welt, im gleißenden Licht der karibischen Sonne. Oft sind die Bilder dieser Wirklichkeit kadriert und betonen so die Zweiteilung in öffentlich-bedrohlichen und privat-geschützten Lebensraum. Wie unzulänglich dieser Schutz allerdings ist, wie schnell seine Grenzen perforiert und somit aufgehoben werden können, wird durch die Eingriffe Janviers illusionslos deutlich. In dem Maße, in dem sich das Geschehen nach Außen verlagert, die Kreise Sarahs und ihrer Großmutter um ihr Haus sich vergrößern, wird die Handlung des Films forciert. Als Sarah mit ihrer neugewonnenen Freundin zum ersten Male an den Strand radelt, setzt dies ein deutliches dramaturgisches Zeichen: der Bannkreis der Kleinstadt wird endlich durchbrochen, der Blick aufs Meer, auf den unendlichen Raum, signalisiert einen Umbruch in der Wahrnehmung des Mädchens und des Zuschauers. Im letzten Drittel erklären sich viele der vorher bruchstückhaft erscheinenden Splitter und Fragmente, so daß sich der Schuhkauf als relativ nichtiger Anlaß sinnvoll in das Geschehen einfügt und das Finale einläutet. Der Tod des Tyrannen am Meer durch die Hand des Kindes ist der etwas pathetische, aber verzeihliche Schlußpunkt des Films, der weniger als Metapher funktioniert als durch einen uralten erzählerischen Kniff der Filmgeschichte. Das Gewehr, das an der Wand hängt, wird unweigerlich auch irgendwann losgehen; und in dem Moment, da Sarah den Revolver ihres Vaters in einem Wäscheschrank findet, sind die Weichen ganz klar in diese Richtung gestellt. Raoul Peck ist eine zugleich intensive und sensible Studie der Gewalt und der von ihr geprägten Menschen gelungen: eine ruhige und unspektakuläre Arbeit, die es in der aktuellen Kinolandschaft nicht leicht haben wird. In der Filmsprache des Regisseurs, eines wachen Grenzgängers der Kulturen, gehen ästhetische Elemente verschiedenen Ursprungs eine reizvolle Synthese ein.
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