Die große Reise - Seyran Ateş und der Weg zu einem reformierten Islam

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 88 Minuten

Regie: Güner Yasemin Balci

Die 1963 geborene türkischstämmige Anwältin Seyran Ateş setzt sich für die Gleichstellung der Frauen im Islam ein. 2017 eröffneten sie und einige Mitstreiter in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der Frauen und Männer Seite an Seite beten, was einmal mehr zu Morddrohungen konservativer Muslime führte. Der Dokumentarfilm beobachtet die Aktivistin über zwei Jahre hinweg und fängt ihren ungebrochenen Kampfgeist und ihre ruhige Art ein, durch die der ihre Gegner rhetorisch meist den Kürzeren ziehen. Zwischen die beobachtenden Passagen setzt der Film stimmige Schwarz-weiß-Sequenzen, in denen Seyran Ateş auf ihren Werdegang zurückblickt. - Ab 12.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Tellux Film/ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Güner Yasemin Balci
Buch
Güner Yasemin Balci
Kamera
Susanna Salonen · Line Kühl · Jesco Denzel
Musik
Peer Kleinschmidt
Schnitt
Marc Bruckwilder
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb

Vielschichtige Doku über die Menschenrechtsanwältin Seyran Ateş und ihr herausforderndes Leben.

Diskussion

Im Jahr 1984 betrat ein Mann das Berliner Beratungszimmer von Seyran Ateş. Die Rechtsanwältin setzte sich damals für Frauen ein, die Opfer religiös begründeter häuslicher Gewalt geworden waren. In der türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland stieß dieses feministische Engagement auf wenig Gegenliebe. Der Mann erschoss eine Mandantin von Ateş und verletzte die Juristin lebensgefährlich. Vor Gericht wurde der mutmaßliche Täter später freigesprochen. Dieses Ereignis markiert nicht den einzigen Einschnitt im Leben der deutsch-türkischen Aktivistin.

Ein Leben unter Morddrohungen

In „Die große Reise – Seyran Ateş und der Weg zu einem reformierten Islam“ zeichnet Güner Yasemin Balci ein Porträt der Frauenrechtlerin. Der Film beleuchtet die unterschiedlichen Motivationen, die dazu führten, dass Seyran Ateş den Islam reformiert sehen will. Im Off-Kommentar erinnert sich Ateş an ihre Kindheit, ihre Erziehung und ihre Ankunft in Deutschland. Der Film zeigt dazu die Eröffnung des von Ateş initiierten liberalen Berliner Gebetshauses, das in Anspielung an die Islam-Sympathien des deutschen Nationaldichters Johann Wolfgang von Goethe den Namen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee trägt. Parallel dazu wird dokumentiert, unter welchen erheblichen Einschränkungen Ateş, die sich zu einer Imamin hat ausbilden lassen, aufgrund ihrer moderaten Kritik an der institutionalisierten Frauenfeindlichkeit des Islams leben muss: Nach etwa hundert Morddrohungen erhält sie nun seit einigen Jahren rund um die Uhr Personenschutz von drei Beamten, die selbst geschützt werden müssen und daher im Film nur verpixelt erscheinen.

„Die große Reise“ blickt auf Seyran Ateş’ alltägliche Arbeit, die stark durch die Begegnung mit Medien geprägt ist. Dabei zeichnet sich eine doppelte Problematik ab, nämlich Hetze gegen ihre Person und eine gewisse Form von Naivität im Umgang mit ihren Positionen. So zeigt der Film auf der einen Seite, wie Ateş sich einem Reporter aus der Türkei stellt, der vorgibt, nichts davon zu wissen, dass seine tendenziösen Berichte im türkischen Fernsehen zu einer Welle obszöner Morddrohungen gegen das liberale Projekt der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee führten. Auf der anderen Seite empfängt Ateş eine ahnungslose junge deutsche Journalistin, die es nicht im Mindesten für nötig gehalten hatte, sich für den Interviewtermin auch nur einige Minuten vorzubereiten.

Hier predigt die Imamin

Zwischen solchen Stressmomenten nimmt der Film sich Zeit, um die Berliner Aktivistin, die sich aus Furcht vor gewaltsamen Nachstellungen nur vermummt aus dem Haus traut, in Momenten der Ruhe und Entspannung zu zeigen. Die Inszenierung kommt Seyran Ateş dabei recht nahe. Man spürt die Kraft der berlinerisch sprechenden Frau, die aufgrund ihrer Mission frenetischen Anfeindungen ausgesetzt ist. So formuliert ein deutsch-türkischer Schüler, der sich mit anderen jungen Männern zur Diskussion in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee eingefunden hat, seinen Argwohn gegenüber einer weiblichen Person, die predigt. „Mein Auge“, so der Schüler über die für ihn ungewohnte Situation mit einer Imamin, „geht dann automatisch zur Frau.“

Diesem jungen Mann, der sich aufgrund seiner streng-konservativen Erziehung gar nicht vorstellen kann, dass er mit diesem Satz zum Ausdruck bringt, Frauen nur mit einem sexualisierten Blick zu betrachten, entgegnet Seyran Ateş mit überraschender Vehemenz: „Ich habe die Nase voll davon, dass islamische Männer von morgens bis abends nur an Sexualität denken.“ Diese Botschaft steht auch im Zentrum des Films, in dem Ateş bewusst differenziert: „Ich kämpfe nicht gegen den Islam, sondern gegen das Patriarchat.“ Die Macht dieses Patriarchats erfuhr sie am eigenen Leib: „Ich kannte das Wort Nutte, noch bevor ich wusste, was es bedeutet.“ Wenn sie sich daran erinnert, was in ihrer Jugend gleichaltrige deutsche Mädchen durften und was ihr aus religiösen Gründen versagt blieb, dann bekommt sie „noch heute Magengeschwüre“. Aufgrund ihrer Affinität zur deutschen Kultur sei sie damals vom Cousin und vom Vater so oft verprügelt worden, dass sie drei Suizidversuche unternommen habe.

Kein Kopftuch im Gerichtssaal

Die Mission von Seyran Ateş, so der Tenor des Films, gliedert sich in zwei Grundaspekte. So positioniert sich die Frauenrechtlerin zum einen gegen jene türkisch-muslimische Community, die ihre liberale Moschee, in der auch Frauen und Schwule beten und predigen dürfen, als Gotteslästerung erachten. Zum anderen ist sie immer wieder gezwungen, einer missverstandenen Form von Toleranz zu widersprechen, die das Tragen des Kopftuchs als Selbstbestimmung und Ausdruck religiöser Meinungsfreiheit verkennt. Aus diesem Grund setzt der Film einen Auszug aus einer programmatischen Rede an den Schluss: „Wenn ich in einen Gerichtssaal gehe, will ich das Kopftuch nicht sehen. Und es irritiert mich, dass gerade Linke, die in ihrem Lager für mehr Gleichberechtigung für Frauen kämpfen, dann aber, wenn es um Muslime geht, ein Frauenbild der AfD vertreten.“

„Die große Reise – Seyran Ateş und der Weg zu einem reformierten Islam“ ist ein vielstimmiger Dokumentarfilm, der durch interessante Zwischentöne überrascht. Der Regisseurin Güner Yasemin Balci gelingt das Kunststück, einen Film mit einer explizit politischen Botschaft gedreht zu haben, der aber nicht agitiert, sondern eine meditative Anmutung besitzt.

Kommentar verfassen

Kommentieren