Coming-of-Age-Film | Frankreich 2019 | 96 Minuten

Regie: Maïmouna Doucouré

Ein elfjähriges Mädchen senegalesischer Abstammung wächst in Paris in einem streng konservativen Umfeld auf, in dem Körperlichkeit und Freizügigkeit geradezu verdammt werden. Als es eine Gruppe Gleichaltriger kennenlernt, die sich auf einen Tanzwettbewerb vorbereitet und dabei die anzüglichen Bewegungen erwachsener Vorbilder imitiert, sieht es eine Möglichkeit zum Aufbegehren. Der Debütfilm erzählt sensibel von der Orientierungssuche eines Mädchens an der Schwelle zur Jugendlichen und ihrer Auseinandersetzung mit der Rolle als Frau. Die körperbetonte Inszenierung der jungen Tänzerinnen wirkt dabei bisweilen unangenehm, ist aber nie voyeuristisch oder selbstzweckhaft. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
MIGNONNES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Bien ou Bien Productions
Regie
Maïmouna Doucouré
Buch
Maïmouna Doucouré
Kamera
Yann Maritaud
Musik
Nicolas Nocchi
Schnitt
Stéphane Mazalaigue
Darsteller
Fathia Youssouf (Amy) · Médina El Aidi-Azouni (Angelica) · Esther Gohourou (Coumba) · Ilanah Cami-Goursolas (Jess) · Myriam Hamma (Yasmine)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Tanzfilm
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Ein elfjähriges Mädchen senegalesischer Immigranten in Paris freundet sich mit Gleichaltrigen an, die sich für einen Tanzwettbewerb vorbereiten und dabei die anzüglichen Bewegungen erwachsener Vorbilder imitieren.

Diskussion

Hautenge, knappe Klamotten, der Bauch unbedeckt, der Mund leicht geöffnet, gespreizte Beine, rhythmische Bewegungen mit dem Po, laszive, herausfordernde Blicke: Die Kleidung, die Mimik, die Körpersprache – alles ist sexuell aufgeladen. Auch bei erwachsenen Frauen wäre eine solche aufdringliche Selbstinszenierung unangenehm. In „Mignonnes“ aber sind die Protagonistinnen, die sich so anziehen und so verhalten, noch Kinder. Sie sind elf Jahre alt.

Ein irreführender Kinderpornografie-Verdacht

Wie provokant und heikel solche Aufnahmen sind, hat auch Netflix zu spüren bekommen; der Streamingdienst sicherte sich die Rechte an dem Film von Maïmouna Doucouré und veröffentlichte ein so geartetes Bild der vier jungen Protagonistinnen als „Teaser“. Das hatte einen regelrechten Shitstorm zur Folge, was mit Blick auf das Plakatmotiv durchaus angebracht war, weil der Film dadurch auf ein einzelnes skandalträchtiges oder zumindest irritierendes Bild verkürzt wird und die abgebildeten Mädchen obendrein zum Objekt gemacht werden, was der im Film erzählten Geschichte keineswegs gerecht wird. Der Streamingdienst verpasste „Mignonnes“ vorsichtshalber eine Altersempfehlung ab 16 Jahren. Kinder und Jugendliche sollten diesen Film nicht sehen, so die Botschaft. Das aber ist ein bemerkenswerter Widerspruch zur Festivalhistorie des Films, der bei der „Berlinale“ 2020 in der Generation-Kplus-Sektion aufgeführt wurde. Und das mit gutem Grund.

Reibungen mit einer konservativen Community

Im Mittelpunkt von „Mignonnes“ steht Amy, die mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern seit kurzem in einer Sozialwohnung in Paris lebt. Obwohl eigentlich genug Platz für zwei Kinderzimmer vorhanden wäre, bleibt ein Raum versperrt. Er ist für den Vater vorbehalten – und dessen künftiger Zweitfrau, mit der er bald aus dem Senegal zurückkehren wird. Sowohl Amys Mutter als auch Amy selbst leiden darunter, dürfen sich aber nichts anmerken lassen. Eine ältere „Tante“ hat in der Community der senegalesischen Immigranten das Sagen und kümmert sich um die Einhaltung von Moral und Ordnung. Ihr Frauenbild ist durch und durch konservativ. Demnach haben sich Frauen den Männern unterzuordnen und dürfen gleichzeitig keine Schwäche zeigen. Während die Männer ihre Sexualität frei ausleben können, sind die Frauen strengen Regeln unterworfen.

Amy hat allerdings keine Lust, sich diesen Vorgaben zu ergeben. Sie ist neugierig und beobachtet mit wachem Blick, was um sie herum vor sich geht. Sie ist von Angelica fasziniert, die sie ausgelassen tanzend in der Waschküche des Hauses beobachtet. Als sie realisiert, dass Angelica, deren Gesicht während der gesamten Tanzszene über verborgen bleibt, genauso alt ist wie sie, fühlt sie sich irritiert. Von nun an sucht Amy immer mehr den Kontakt zur Clique um Angelica, die sich gerade auf einen Tanzwettbewerb vorbereitet.

Die Welt der Elfjährigen könnte nicht unterschiedlicher sein als Amys familiäres Umfeld. Perfekt imitieren die vier Kinder das Bild von Weiblichkeit, das sie aus der Werbung, aus sozialen Netzwerken und von Videoplattformen kennen, die Codes, die Blicke, die „Twerking“-Bewegungen ihrer meist erwachsenen Vorbilder. Bald ist es Amy, die die Freizügigkeit in der Gruppe auf die Spitze treibt und zunehmend Grenzen überschreitet.

Kluft zwischen Abgeklärtheit und Naivität

Die Regisseurin Maïmouna Doucouré setzt die jungen Darstellerinnen sensibel in Szene und verdeutlicht dabei immer wieder den Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit, vorgeblicher Reife und Erfahrung, Unschuld und Naivität. Wenn die Mädchen scheinbar abgeklärt und kenntnisreich Pornos auf ihren Smartphones kommentieren, wird ihre Unwissenheit ebenso deutlich wie wenn eine von ihnen einen Kondom für einen Luftballon hält.

Durch die dokumentarisch geführte Kamera bleibt der Film ganz nahe bei Amy und vermittelt ein Gespür für ihre Lebenssituation und ihre Wünsche. Amy ist grundsympathisch, weil sie in ihrem Alter schon so selbstbewusst ist und den Mut hat, den Erwachsenen die Stirn zu bieten. Ihr Körper und ihr Look werden zum Instrument der Rebellion gegen die starren Regeln und Vorgaben, etwa dass eine Frau in der Küche zu arbeiten habe und von ihrem zukünftigen Mann herumgereicht und vorgeführt werden dürfe wie ein Objekt. Die von der HipHop-Kultur inspirierten Tanzvideos, die Amy und ihre Freundinnen drehen, sind das krasse Gegenteil. Hier fühlen sie sich stark, sexy, erwachsen und frei – und genießen die Wirkung ihres Verhaltens und Aussehens sowohl auf etwas ältere verunsicherte Jungen als auch auf Erwachsene. Womit sich „Mignonnes“ allerdings weit aus dem Fenster lehnt.

Beobachten, aber nicht zur Schau stellen

Es lässt sich nicht schönreden, dass der Film die Mädchen in manchen Szenen beim Tanzen in hochgradig sexualisierten Posen zeigt und sich damit angreifbar macht, genau das darzustellen, was er eigentlich kritisieren will, auch wenn er dabei meist auf Distanz bleibt. „Mignonnes“ beobachtet, stellt aber nicht zur Schau, kann Voyeurismus bedienen, ist aber nicht voyeuristisch angelegt; das ist ein großer Unterschied zu anderen Produktionen, die mit größter Selbstverständlichkeit Kinder zweifelhaft inszenieren und dies nicht hinterfragen, so wie auch die erwachsenen Juroren in „Mignonnes“, vor denen die Kinder auftreten, offensichtlich überhaupt kein Problem mit dem Erscheinungsbild und Verhalten der jungen Tänzerinnen haben. Aber es gibt keinen Zweifel, dass diese Szenen höchst befremdlich wirken und unbequem sind – was wiederum genau deshalb funktioniert, weil der Film die Geschichten der Mädchen erzählt und dabei nicht kaschiert, wie jung sie eigentlich sind. Er macht sichtbar, dass sie in Rollen schlüpfen, wenn sie sich so verhalten, auch wenn sie noch nicht abschätzen können, wie problematisch ihr Verhalten ist und wie sie sich damit zum Objekt machen.

Über die Gefahr, zum Objekt gemacht zu werden

Immer wieder geht es in „Mignonnes“ genau um dieses „zum Objekt werden“. Das allein auf stereotype Schönheitsideale, Attraktivität und Verführung ausgerichtete Frauenbild, an dem sich die Mädchen orientieren, erweist sich dabei als nicht weniger irreführend als die konservative traditionelle Frauenrolle, wie sie von Amys Eltern und erwachsenen Verwandten gelebt beziehungsweise erduldet wird. Klug erzählt der Film, wie die Mädchen ihren eigenen Weg finden zwischen diesen beiden Polen, die einerseits durch die hautenge, knappe Tanzkleidung, andererseits durch das wallende Kleid, dass Amy zur Hochzeit ihres Vaters tragen soll, symbolisiert werden.

Unterm Strich ist „Mignonnes“ ein vielschichtiger Film, in dem die Experimente der Protagonistin nicht moralisch bewertet, sondern erklärt werden, und in dem von weiblicher Identität als Mädchen, als Jugendlicher und als erwachsener Frau erzählt wird. Auch ohne erhobenen Zeigefinger macht die Regisseurin dabei ihre Position deutlich, und es gibt keinen Grund, „Mignonnes“ einem Publikum vorzuenthalten, das sich wie Amy an der Schwelle vom Kind zur Jugendlichen befindet und sich mit seiner Identität auseinandersetzt. Schließlich hat Amy am Ende zumindest eine gute Vorstellung davon, wie ihre Zukunft als erwachsene Frau auf keinen Fall aussehen soll. Sie hat eigene Maßstäbe gefunden. Und das ist vielleicht die größte Freiheit.

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