Erdbeer und Schokolade

Komödie | Kuba/Mexiko/Spanien 1993 | 110 Minuten

Regie: Tomás Gutiérrez Alea

Ein systemkritischer Homosexueller und ein linientreuer Student lernen sich in Havanna in mehreren Begegnungen kennen. Die ursprünglichen Ziele - Verführung auf der einen, Bespitzelung auf der anderen Seite - geraten angesichts der wachsenden Freundschaft immer mehr aus dem Blickfeld. Ein menschlich bewegendes und äußerst unterhaltsames Plädoyer für Respekt und Toleranz. Gefühlskino im besten Sinne, mit sicherer Hand zwischen den Extremen von Melodram und ironischer Farce inszeniert. (Preis der OCIC in Havanna 1993; O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
FRESA Y CHOCOLATE
Produktionsland
Kuba/Mexiko/Spanien
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
ICAIC/IMCINE/Tabasco/TeleMadrid/SGAE
Regie
Tomás Gutiérrez Alea · Juan Carlos Tabío
Buch
Senel Paz
Kamera
Mario García Joya
Musik
José María Vitier
Schnitt
Miriam Talavera · Osvaldo Donatién
Darsteller
Jorge Perugorría (Diego) · Vladimir Cruz (David) · Mirta Ibarra (Nancy) · Francisco Gattorno (Miguel) · Joel Angelino (Germán)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Komödie | Melodram | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
"Ich liebe Erdbeer. Das einzige Gute, was sie hier machen. Jetzt werden sie es exportieren und für uns bleibt nur Zuckerwasser." Diego gibt sich zu erkennen. Nicht nur als ketzerischer Kommentator des kubanischen Alltagslebens, auch mit seiner Homosexualität hält er nicht hinter dem Berg. Als gelte es, alle "tuntigen" Klischees noch weit hinter sich lassen, wirbt er am Tisch eines Eiscafes ebenso aufdringlich wie beredsam und trickreich um den jungen David. Dem ist solche "Anmache" sichtlich unangenehm, betont unauffällig zückt er kurz sein Parteibuch (wie der Vampirjäger sein Kruzifix). Erst als Diego behauptet, ihn bei einem Theaterauftritt fotografiert zu haben, folgt David ihm widerstrebend nach Hause, um die Fotos anzusehen.

Der Beginn einer wundervollen Freundschaft. Bis hierher baut Regisseur Alea (der während der Dreharbeiten erkrankte, die dann von Juan Carlos Tabío beendet wurden) seine beiden Protagonisten ganz im Sinne althergebrachter Klischees auf. Hier der exzentrische Homosexuelle, gebildet und kunstbeflissen, ansonsten scheinbar ganz auf "das Eine" fixiert; dort der unschuldig-idealistische Kommunist, den seine Naivität gerade erst die große Liebe gekostet hat. Um so lustvoller widmet sich der Film anschließend der Umdeutung und Aufweichung dieser Ausgangskonstellation. Verläßt David beim ersten Besuch noch fluchtartig Diegos Wohnung, so kehrt er alsbald zurück, um das Jäger-Beute-Verhältnis auf den Kopf zu stellen: fortan wird er den "Konterrevolutionär" bespitzeln, der sich zur Religion bekennt, Kontakte zu einer ausländischen Botschaft pflegt und zweifelhafte Kunstwerke beherbergt wie eine mit Hämmern und Sicheln malträtierte Christus-Büste. Eine durchaus faszinierende Aufgabe, offenbaren doch Diego und seine mit Erinnerungen vollgestopfte "Höhle" kulturelle Facetten der kubanischen Gegenwart und Vergangenheit, die David bislang verborgen waren. Je mehr sich beide Männer mit Sympathie und Respekt begegnen, desto mehr verlieren ihre ursprünglichen Ziele an Bedeutung.

Bei einem seiner Besuche gerät David vor Diegos Haus in einen Aufruhr. Nancy, die temperamentvolle Nachbarin, hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Beide Männer begleiten sie ins Krankenhaus. Später wird Diego sie bitten, David von seiner "Jungfräulichkeit" zu erlösen. Und tatsächlich kommt es nach einem Festessen zu dritt zur Liebesnacht zwischen Nancy und David. Währenddessen kümmert sich Diego im verborgenen um seine Ausreise. Das ganze Ausmaß seiner beruflichen und politischen Schwierigkeiten hatte er David bis dahin vorenthalten. Am folgenden Tag gehen die Männer zum ersten (und letzten) Mal gemeinsam in der Öffentlichkeit aus, machen sich gegenseitig Mut für eine ungewisse Zukunft, die Diego ins Ausland und David wahrscheinlich zu Nancy führen wird. Der Film endet mit einer innigen Umarmung.

"Jeder soll so leben können, wie er möchte", erklärt David bei einem seiner ersten Besuche mit dem Ausdruck größter Selbstverständlichkeit. Wie sehr Theorie und Praxis bei derlei Bekenntnissen auseinanderklaffen, erfährt David - ein linientreuer Idealist, aber kein "Betonkopf" - am eigenen Leib. Sein wachsendes Verständnis für Diego bringt ihn in Mißkredit bei seinem Kommilitonen Miguel, revolutionäre "Glaubenssätze" verlieren im Alltag plötzlich ihre Tauglichkeit. David wird zum eigentlichen "Helden" des Films. Sein Reifeprozeß führt nicht nur in eine eigenständige Position gegenüber den Gesetzen von Ideologie und Machismo, sondern verleiht ihm auch deutlichere Konturen gegenüber Diego, neben dessen impulsivem Charme er anfangs bedauernswert farblos wirkt.

Toleranz und Respekt - die "Botschaft" des Films ist so brisant wie simpel. Brisant nicht nur in Kuba, wo "Erdbeer und Schokolade" mit seiner Vision eines gesellschaftlichen Pluralismus zum gesellschaftlichen Ereignis avancierte. Verblüffend dabei - und hier kann man sich den Seitenblick aufs deutsche Kino kaum verkneifen - wie Alea/Tabío und Autor Paz aus ihrer einfachen Geschichte ein bewegendes und äußerst unterhaltsames "Kino der Gefühle" zaubern. Witzig und traurig, ironisch und warmherzig, nachdenklich und ungestüm-temperamentvoll. Die pure Lust am Erzählen scheint diese Gegensätze so problemlos zu versöhnen, wie sie aus scheinbar fest umrissenen Typen (die manisch-depressive Nachbarin, der karrieriesüchtige und feminine Künstler) mit kleinen Wendungen doch noch Charaktere aus Fleisch und Blut entwickelt. Die Ausnahme bleibt Miguel, der Vorzeige-Macho und -Kommunist. Ihm allerdings, dem hartnäckigen Homosexuellen-Hasser, werden von der Inszenierung mit sanfter Bosheit immer wieder homosexuelle Attribute untergeschoben, die ihren Höhepunkt in einer aufgeregten "Entlarvungs-"/Eifersuchts-Szene mit dem überführten David findet.

Wie warmherzig und solidarisch die Regisseure bei aller Ironie mit den Schwächen ihrer Figuren umgehen, zeigt sich auch an Nancy, der revolutionären Schwarzhändlerin, die es versteht, die verschiedenen religiösen Heiligen mit kleinen Opfern für ihre Zwecke einzuspannen und gegeneinander auszuspielen. Und nicht zuletzt darf Diego selbst mehr sein als das Opfer der Verhältnisse. Listig, verschlagen und keineswegs aus romantischen Motiven wirbt er anfangs um David; später verschweigt er dem Freund seine Auswanderungspläne lange. Auch diese Nuancen sind es. die den Film so liebenswert, seine Menschlichkeit so anrührend machen. Daß er nur einen Bruchteil des Publikums etwa von Jonathan Demmes "Philadelphia" (fd 30 662) erreichen wird, gehört zu den Ungerechtigkeiten, an die man sich nie so recht gewöhnen wird.
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