Drama | Indien 2020 | 127 Minuten

Regie: Chaitanya Tamhane

Ein junger Musiker versucht, eine fast vergessene Spielart klassischer indischer Musik am Leben zu halten, doch wirklich erfolgreich ist er damit nicht. Seine Hingabe an seine mit religiösem Eifer betriebene Mission bringt ihn in latente Spannung zum Leben im modernen Mumbai. Ein meditatives Drama über das Wesen von Ambitionen und eine Kulturlandschaft, die sich durch technologischen Fortschritt zunehmend verändert. Strenge Bildkompositionen erzählen von einem Leben zwischen gesellschaftlicher Anpassung und idealistischer Weltflucht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE DISCIPLE
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Zoo Entertainment
Regie
Chaitanya Tamhane
Buch
Chaitanya Tamhane
Kamera
Michal Sobocinski
Schnitt
Chaitanya Tamhane
Darsteller
Aditya Modak (Sharad Nerulkar) · Arun Dravid (Guruji) · Sumitra Bhave (Maai) · Deepika Bhide Bhagwat (Sneha) · Kiran Yadnyopavit (Sharads Vater)
Länge
127 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Musikfilm
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Drama um einen Inder, der sein Leben traditioneller Gesangskunst verschrieben hat. Doch wie lässt sich das mit dem Leben im modernen Mumbai vereinbaren?

Diskussion

Es muss traurig sein, als letzter Hüter eines sterbenden Glaubens zu leben. Der Musiker Sharad Nerulkar (Aditya Modak) trägt klassische indische Stücke vor und träumt von Himmelsmusik auf Erden. Von Klängen, die sich von Körpern und Instrumenten lösen und zu Gebeten werden. Seine Musik ist ihm mehr als Hobby oder Beruf, sie ist Religion und Weltanschauung. Man könnte ihn als Fundamentalist seiner Tradition verstehen. Anstelle von heiligen Texten hat er alte Tonbänder, sie stammen von einer fast vergessenen Sängerin namens Maai, die schon mehr als dreißig Jahre lang tot ist. Sharad kann weder ihren Worten noch denen seines Vaters entkommen. Er ist ein ewiger Schüler - auch dann noch, als er selbst längst Lehrer geworden ist.

„Der Schüler“ von Chaitanya Tamhane ist vieles. Ein Film über das Drama menschlicher Ambitionen, über den unerreichbaren Traum von der reinen Kunst und widersprüchlichen Sehnsüchten. Entfernte Verwandte wären vielleicht „Inside Llewyn Davis“ oder „Die Klavierspielerin“. „Der Schüler“ ist aber auch ein Drama über die Suche nach einem anderen Leben und einer anderen Beziehung zur Welt. Sharad will etwas bewahren, dem selbst Kenner und Gelehrte wenig Wert zumessen. Sein Vater hat ein kaum beachtetes Buch über Maai geschrieben, der Sohn führt das Vermächtnis fort. In einer alten Fernsehaufnahme wird der Vater gefragt: „Wenn sich heute jemand die Musik anhören will, wo findet er sie?“. Er antwortet, mit einem Anflug von Stolz und Trotz: „Nirgendwo.“

Die Musik schwebt durch die Szenen wie ein Nebel

Sharads Guru (gespielt von Sänger Arun Dravid) ist alt, krank und – wenn man Geld und Ansehen als Kriterium heranzieht – so erfolglos wie er. Beim Arzt muss der Schüler für den Meister die Rechnung begleichen. Ihre Musik ist nicht von augenfälliger Schönheit, aber ungemein faszinierend: Wie die Stimme sich an die Instrumente schmiegt und sich in sie verwandelt, zittert wie Saiten oder perkussiv Teil des Rhythmus wird. Das Publikum begegnet ihm weitestgehend höflich und respektvoll. Zu mehr lassen sie sich selten hinreißen. „Der Schüler“ ist ein Musikfilm, dessen Musik fast nie euphorisch empfangen oder in Szene gesetzt wird.

Immer wieder sehen wir Sharad auf seinem Motorrad durch die nächtliche Stadt gleiten, oft in Zeitlupe. Die Musik schwebt durch diese Szenen wie ein Nebel. Eine Atmosphäre, die ihn immerzu umgibt. Seine Atemluft und einzige Begleiterin auf der einsamen Reise. Aus dem Off hören wir die Reden von Maai, die Sharad meistens bei der Arbeit für ein erfolgloses Plattenlabel hört. Sie sagt Sätze wie „Durch diese Musik wird uns der Weg zum Göttlichen offenbart“. Oder auch: „Wenn du diesen Weg gehen willst, lern hungrig und einsam zu sein.“ Zumindest diese Lektion hat Sharad offensichtlich verinnerlicht.

Eine tragische, lächerliche oder heroische Figur?

Freunde hat er kaum noch; seine Beziehungen zu Frauen enden, bevor sie wirklich beginnen. Seine Existenz gleicht einer langsam schmelzenden Eisscholle. Das Potential der Jugend gleitet ihm durch die Finger. Er greift gierig, aber kann wenig bewahren. Seine Mutter rät ihn zu einem „richtigen“ Beruf und zur Heirat, er will davon nichts wissen. Der Guru erklärt ihm, vor 40 solle man nur ans Üben denken. Ein Rat aus einer anderen Zeit, aus einer langsameren Welt.

Der Protagonist ist, je nach Situation, eine tragische, lächerliche, oder heroische Figur. Ewig gefangen zwischen Weltflucht und Teilhabe, zwischen Widerstand und Anpassung. In den strengen Kompositionen, die Chaitanya Tamhane mit seinem Kameramann Michał Sobociński entwirft, blickt die Kamera meist mit gehöriger Distanz auf die Ereignisse. Vom Ende des Raums, fast von außen. Wie ein Gast, der jederzeit gehen könnte, es aber nie tut. Ein marginalisierter Blick, den es von den Rändern schleichend langsam zum Zentrum zieht.

Ein Sog entwickelt sich

Oft liegen diese Tableaus statisch da, die ganze Welt eine Bühne. Kaum merkliche Fahrten, langsam wie Kontinentalverschiebungen, führen den Blick zu Sharad. Eine Bewegung, die auch dem Sog entspricht, den der Film entwickelt. Die tief gestaffelten Bilder geben manchmal den Eindruck, nicht von vorne auf einen Raum, sondern von oben auf einen Abgrund zu blicken.

Wenn Sharad musiziert oder meditiert, fährt die Kamera zu ihm, was normalerweise eine einzigartige Erfahrung markieren würde. Wenn er zu Internetpornographie masturbiert allerdings auch. So entsteht ein Bruch zwischen Form und Figur – die Einstellungen erzählen von einem Veränderungsprozess, der nur noch mittelbar etwas mit ihm zu tun hat.

Im Schatten des Castingshow-Glanzes

Er verfolgt über Fernsehen und soziale Medien den Aufstieg einer anderen Sängerin. Die Casting-Show „Fame India“, eine indische Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, stellt sie einem größeren Publikum vor. Eingangs wird bei diesen Szenen der Fernsehbildschirm von außen abgefilmt, Sharads Blick fällt mit dem des Zuschauers zusammen. Später füllen ihre immer aufwändigeren Darbietungen die gesamte Leinwand, der Fernsehrahmen verschwindet. Die Sängerin wird mächtiger, gleichzeitig zum Teil der großen Pop-Inszenierung und doch wahrhaftiger. Sie wird zur Ikone, zum Star, während er nur frustriert zusehen kann. Dabei steht er doch für die wirkliche indische Musik, nicht für minderwertiges Fusion-Allerlei und andächtiges Geplärre ohne Fallhöhe!

Alte Traditionen & neue Virtualität

Chaitanya Tamhane entwirft eine ungemein spezifische Welt mit eigenen Codes und Verweissystemen (bevölkert von entsprechend kundigen Laienschauspielern), die dennoch jedem bekannt sein dürfte. Dem geneigten Filmenthusiasten etwa dürfte diese kuriose Mischung aus verbissenem Elitarismus, quasireligiöser Untergangssehnsucht und ehrlicher Leidenschaft nur allzu vertraut sein. Zumal auch in diesem Fall neue Technologien eine große Rolle spielt. YouTube präsentiert plötzlich Konzerte, und die Kommentarspalte erlaubt den unmittelbaren Austausch mit Fans und vor allem Feinden. Wenn der Sänger Tonbänder spendet, sind diese auch online verfügbar. Datenbanken und kollektives Gedächtnis beginnen zu verschmelzen. Erlaubt die neue digitale Kultur bald, noch esoterischste Sub-Sub-Subkulturen zu bewahren, oder ist das alte Wissen in der labyrinthischen Virtualität noch schwerer zu finden als in verstaubten Folianten?

Kann der sterbende Glaube auf einem USB-Stick weiterleben? Oder wird er dort etwas Anderes, ein leeres Echo? Eine letzte Einstellung des Films träumt eher von einem einsamen Wanderer zwischen den Dingen. Von einem heiligen Narren, der das vermeintlich Verlorene, das er ewig sucht, allein durch die Suche am Leben erhält.

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