Ein Vergleich aus der Welt der Musik sei erlaubt. Einige kluge Leute begannen Ende der 1970er-Jahre, die Entstehungs- und Aufführungsbedingungen vor allem der Werke der Barockmusik zu erforschen, die technische Beschaffenheit der Instrumente, ihre Besetzung im Orchester, Stimmklang und -führung der menschlichen Stimme und ähnliches. Sie waren darin so erfolgreich, dass man Bach und Konsorten seither mit anderen Ohren hören kann, und kaum noch so wie in den Jahrzehnten zuvor. Das nennt man „HIP“, historisch informierte Praxis. Im Gegensatz dazu erinnert man sich aber auch mit Schaudern, dass Bachs „Air“ mit 22 Streichern plus Synthesizer, in süßlich-verschlepptem Tempo und im Studio üppig nachbearbeitet, ebenfalls einmal kurz in Mode war – unter dem Label „Rondò Veneziano“.
„Bridgerton“ beginnt mit Mimikry als historisches „Period Drama“, dessen poppig-bunter Look und musikalische Amalgamierungen von Klassik und Modern Pop kritischeren Geistern wohl suggerieren sollen, dass das alles nicht so genau zu nehmen sei, eher wie im Traum; überhaupt werde hier doch ein Märchen erzählt. Die Macher wollten wohl an die Ästhetik von Baz Luhrmann anschließen oder an Sofia Coppolas Pop-History „Marie Antoinette“. Dies gelingt jedoch nicht überzeugend, trotz üppiger Kostüme und einiger passabler Darstellerleistungen. Die Serie häuft Unrichtiges auf Unglaubwürdiges und bringt zu schlechter Letzt gänzlich ahistorische Fake News in Umlauf – kurz: sie ist ein Drama unserer Zeit.
Debütantin auf hoh(l)em Parkett
Die erste Staffel mit acht Folgen zu jeweils einer Stunde, nach den sehr farbig illustrierten Büchern von Julia Quinn, ist im Kern ein schwacher Aufguss der ewig gleichen Gesellschaftskabalen und Heiratsmarkt-Bilanzen englischer Provenienz im Kielwasser unzähliger Jane-Austen- und Brontë-Sisters-Verfilmungen beziehungsweise eher noch derer Klone und Surrogate. Die Anfänge der Geschichte sind rasch resümiert: Daphne Bridgerton (Phoebe Dynevor), die schönste unter vielen Schwestern, ist in dem Alter, um bei Hof vorgestellt zu werden. Sie macht mit ihrem Germany-Next-Topmodel-mäßigen Catwalk den größten Eindruck auf eine dekadent-gelangweilte Queen (Golda Rosheuvel) und ist fortan der „Talk of the Town“. Das bestimmt Daphne Bridgerton in der Logik der Zeit und des Ortes offenbar ausschließlich dazu, die saftige Beute für allerlei zweifelhafte Freier zu sein. Dabei ist die Ehe als Ziel der menschlichen (vor allem: weiblichen) Existenz eigentlich bereits schwer diskreditiert, wenn man sich etwa den Bund der rivalisierenden Familie Featherington (Polly Walker; Ben Miller) anschaut.
Milde enttäuscht von ihrem ersten Ausflug in die weite Welt der hoh(l)en Gesellschaft, aber ohne Antrieb zur Rebellion oder eigene alternative Lebensentwürfe wartet Daphne im Salon ihrer Familie auf den Richtigen (es wird in dieser Serie unendlich viel und lange gewartet); hin und wieder verdutzt durch halbgescheite, halboriginelle Spitzen ihrer klügsten Schwester Eloise (Claudia Jessie), die offensichtlich die Rolle einer quasimodernen, blaustrümpfigen Stellvertreterinnenfigur zu mimen hat. Bis schließlich in Gestalt von Simon Bassett, Duke of Hastings (Regé-Jean Page), ein charismatischer, gut gebauter Beau mit einem dunklen Geheimnis (und verdächtig viel Anlass, seinen bloßen Oberkörper zu zeigen) in ihr Leben tritt.
Da es als unschicklich gilt (und das Drama dann nach 90 Minuten ein gnädiges Ende fände), der Stimme des Herzens unmittelbar Folge zu leisten, und weil zufällig auch ein ungeheuer läppischer, sehr milchweißer preußischer Operettenprinz (Freddie Stroma) in London weilt, vereinbart Daphne mit Simon ein gemeinsames öffentliches Werben und Turteln, um die anderen zu täuschen; sie gewinnt damit Zeit zum Nachdenken, er, um sich zur wahren Liebe zu bekehren; den weiblichen Featheringtons aber bleibt alle Zeit der Welt, vor Neid grün und gelb zu werden – und dem Publikum, um sich herzlich zu langweilen, denn bis es zu ersten dramatischen Auflockerungen der Geschichte kommt (ein streng verbotenes Duell), sind sage und schreibe fast vier Stunden vergangen.
Eine Art „Blackfacing“, nur anders herum
So weit, so belanglos – für alle Beteiligten. Dieser allzu dünne Nachmittagstee – man sieht jeweils zu Beginn der Episoden gleichsam den Boden der Tasse in allen kitschigen Regenbogenfarben schillern – wird durch die wenig bissigen Kommentare einer Gesellschaftskolumnistin namens Lady Whistledown gewürzt, deren Sottisen alle mit wohligem Grusel aufsaugen und um deren wahre Identität viel Gewese gemacht wird. Eher als an einen Whistleblower vom Schlage eines Edward Snowden denkt man hier an Figuren vom Kaliber einer Rita Skeeter, der Vertreterin einer offenbar typisch englischen Abart des Boulevard-Journalismus. Bezeichnend ist auch, dass „Bridgeton“ nicht davor zurückschreckt, einen akzeptablen, aber weniger attraktiven Bewerber um Daphnes Hand durch brutales Mobbing aus dem Verkehr zu ziehen und gesellschaftlich zu beschädigen.
Was die Serie allerdings zu einem wirklichen Ärgernis macht, ist die sich steigernde hysterisch-unhistorische Sichtweise auf die Figuren in ihrem geschichtlichen Kontext und ihre Rollen in den ausbeuterischen sozialen Verhältnissen der aufziehenden Regency-Ära zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Kontraproduktive Provokationen
Um nur ein Beispiel zu nennen: Man mag zu Beginn die Besetzung, die das Figurenensemble aus der britischen Oberschicht teilweise von Darsteller*innen mit dunkler Hautfarbe verkörpern lässt, noch für ein besonders gewagtes Experiment mit „Colorblind Casting“ halten, bei dem weiße Rolle mit nicht-weißen Darstellenden besetzt werden. Doch ein Dialog in der vierten Folge entlarvt, wie kontraproduktiv hier die „Woke Ideology“ zelebriert wird. King George III. wird vom (schwarzen) Duke of Hastings dafür gepriesen, mit Queen Charlotte seinem Reich erstmals eine schwarze Regentin gegeben zu haben und dadurch für ihn, aber auch die Lady Danbury (Adjoa Andoh) und alle anderen „people of color“ gesellschaftlich tolerante und durchlässige Bedingungen geschaffen zu haben.
Dies ist Blackfacing einmal anders herum und als Blick ausgerechnet auf die Epoche des britischen Imperialismus auf so viele diverse Arten falsch, dass einem ganz anders werden könnte! Wenn der Drehbuchautor Christian Van Dusen in Interviews allen Ernstes den Stammbaum von Charlotte von Mecklenburg-Strelitz hervorkramt, um eine maurische Vorfahrin im 13. (!) Jahrhundert zu dokumentieren, so ist das nicht weniger als ein historisches Drama aus dem Geiste des Ariernachweises. Hier träumt das kalifornische Shondaland stellvertretend für ein in seinem Selbstbild offenbar stark erschüttertes Post-Brexit-„Empire“ mit den Fake-News-Mitteln eines Donald Trump im falschen Technicolor das Märchen von einer besseren Welt. Damit ist niemandem gedient, und das Erwachen wird ein böses sein.
Vielleicht hat die eine, der andere danach aber wieder Lust auf einen guten Film – er muss ja nicht gerade in Schwarz-Weiß sein.