Im Vorspann von „Run“ füllt sich das Bild mit Lexikoneinträgen verschiedener Gebrechen: Diabetes, Asthma, Lähmung, Herzrhythmusstörungen. Unter all diesen Erkrankungen leidet die 17-jährige Chloe (Kiera Allen) seit ihrer schwierigen Frühgeburt. Ihr Alltag ist dementsprechend von einer ermattenden Routine geprägt. Jeden Morgen muss sie sich in den Rollstuhl hieven, sich übergeben, den großflächigen Ausschlag auf ihrem Rücken eincremen, Dehnübungen machen, Insulinspritzen setzen und vor allem Unmengen an Tabletten schlucken. Trotzdem ist aus Chloe kein verbittertes, sondern ein kluges und lebhaftes Mädchen geworden, das nach Freiheit und Selbstverwirklichung strebt. Deshalb ist es für sie, die ihr ganzes Leben von ihrer aufopferungsvollen Mutter Diane (Sarah Paulson) gepflegt und unterrichtet wurde, nun an der Zeit, sich für ein College zu bewerben.
Ein Nest, das das flügge werdende Kind nicht loslässt
Doch mit diesem Abnabelungsprozess beginnen im Film die Probleme. Regisseur Aneesh Chaganty („Searching“) streut beiläufige, erst in der Summe besorgniserregende Beobachtungen, die offenlegen, wie sehr das innige Mutter-Tochter-Verhältnis von Abhängigkeiten geprägt ist. Da wäre etwa die Abgeschiedenheit des Zuhauses oder die Tatsache, dass Chloe weder ein Smartphone noch einen eigenen Internetzugang besitzt. Und jedes Mal, wenn sie zum Postboten stürmt, weil sie sehnlichst auf eine Antwort von der Uni wartet, ist ihre Mutter zufällig ein paar Sekunden schneller.
Chloes Misstrauen wächst schließlich, als sie eine ungewöhnlich etikettierte Pillendose findet. Alles was zuvor normal erschien, wirkt bei genauerer Betrachtung plötzlich höchst befremdlich. Die ursprüngliche Geborgenheit des Zuhauses weicht zunehmend dem beunruhigenden Gefühl, eingesperrt zu sein. Ebenso drängend wie die Frage, was Chloe da eigentlich für Medikamente schluckt, wird der Verdacht, dass Diane hinter ihrem sanften, verständnisvollen Pokerface vielleicht nicht ganz so ehrenwerte Absichten verbirgt.
Ausbruchsversuche
„Run“ erweist sich als erfrischende Variation auf Thriller und Horrorfilme über fehlgeleitete Mutterliebe. Als Erfolgsrezept bewährt sich dabei das im Titel anklingende, uneingelöste Fluchtversprechen. Ähnlich wie die Hauptfigur in Stephen Kings „Misery“ bleibt die Heldin nur bedingt beweglich und der fast alleinige Schauplatz ein Haus, in dem alles seinen dramaturgisch kalkulierten Platz hat. Chloes Zimmer befindet sich etwa äußerst ungünstig im ersten Stock, der einzige Computer lässt sich über einen langen Gang einsehen, und der Keller steht stellvertretend für ein dunkles Geheimnis, das auch ebendort gelüftet wird.
Wenn der Film auf Überraschungseffekte setzt, die mit der Vorgeschichte der beiden Frauen zu tun haben, droht er sich ein wenig in seinem Plot-Konstrukt zu verheddern. „Run“ konzentriert sich allerdings überwiegend auf seine Stärken, genau genommen auf Chloes nervenzerreißende Versuche, aus ihrem häuslichen Gefängnis auszubrechen. Ein Schnurtelefon im Schlafzimmer der Mutter oder ein Treppenlift werden dabei zu Hilfsmitteln, die im entscheidenden Augenblick ihren Dienst versagen, ein gemeinsamer Kinobesuch im nahe gelegenen Dorf zum einzigen Schlupfloch aus der Unmündigkeit. Und immer schwingt dabei die Angst mit, entdeckt zu werden.
Geschickt verknüpft „Run“ eine ausweglose Situation mit einem Minimum an Möglichkeiten. Nicht zufällig schwenkt die Kamera einmal auf ein Poster für ein Escape Game. Als Chloe später in ihr Zimmer eingesperrt wird, schickt der Film sie auf einen strapaziösen Parcours, der sich nur mit Hartnäckigkeit und ausgeprägtem Erfindungsreichtum bewältigen lässt. So wenig sich Chaganty für Schockmomente oder blutige Scheußlichkeiten interessiert, so entschieden setzt er auf seine zwei hervorragenden Hauptdarstellerinnen und einen bedingungslosen Kampf um Selbstbestimmung. Der eigentlich eher aus Familiendramen bekannte Emanzipationsversuch eines Kindes wird in „Run“ zu einem atemlosen Spiel mit hohem Einsatz.