Berlin wird immer mal wieder als das Herz Europas bezeichnet. Aktuell ist es schlecht durchblutet, weil ein Virus es in Schach hält. In der Zukunft des Jahres 2074 hat es einen Infarkt erlitten. Es sieht dort aus wie in John Carpenters „Klapperschlange“ (1981). Allerdings regieren hier nicht Reptilien, sondern die Crows, eine ultrabrutale Sippe, die aus dem Kollaps Europas hervorgegangen ist. Das Gegenteil dieser Krieger- und Sklavengesellschaft findet sich gar nicht weit entfernt im Wald. Die Origines leben im Einklang mit der Natur – und isoliert von der Außenwelt. Dabei bleibt es natürlich nicht. Ein merkwürdiges Flugobjekt taucht auf – und die Idylle ist dahin.
Auch für Quirin Berg von Wiedemann & Berg, Produzenten der neuen deutschen Netflix-Serie, ist Berlin das Herz Europas. Und so tummeln sich die meisten der titelgebenden „Tribes of Europa“ zunächst im Einzugsgebiet der Stadt. Die Serie beginnt bei den Origines. Deren alternative Baumhauswelt unweit von Berlin wird schon in der ersten Episode dem Erdboden gleichgemacht. In dem Gemetzel, das die Crows anrichten, kommen fast alle ums Leben. Es überleben die Geschwister Liv (Henriette Confurius), Kiano (Emilio Sakraya) und Elja (David Ali Rashed). Auch ihr Vater kommt mit dem Leben davon. Doch sie werden getrennt. So ergeben sich drei Handlungsstränge, die die serielle Erzählung fortan prägen.
Im Fahrwasser von „Die Tribute von Panem“
„Tribes of Europa“ benutzt postapokalyptische Versatzstücke, um ein auseinandergebrochenes Europa der nahen Zukunft als Abenteuerspielplatz einer Geschichte in Szene zu setzen, die sich deutlich an Young-Adult-Dystopien im Stil von „Die Tribute von Panem“ orientiert. Die Hauptfiguren sind sehr jung und versuchen sich in einer ultrabrutalen und stark militarisierten Welt zu behaupten. Liv trifft auf Soldaten der Crimson Republic, die aus dem Eurokorps hervorgegangen sind und Berlin befreien wollen. Mit ihrer Armbrust als Waffe erinnert Liv an Katniss Everdeen, die ja auch eine besondere Beziehung zum Wald hat. Kiano wird zusammen mit seinem Vater von den Crows versklavt und nach Berlin geschleppt. Die Mission von Elja erinnert an „Herr der Ringe“: Der Ring, den Frodo mit sich trägt, ist bei Elja ein mysteriöser Cube – eine mächtiges Stück Technologie, das alle haben wollen. Dieser wird ihm von dem Piloten des unbekannten Flugobjekts übergeben, das zu Beginn abgeschossen wird.
Elja hat auch eine Art Mentor, Moses (Oliver Masucci), der sich durchs Leben schlägt, indem er Restposten aus der alten Welt vertickt. Seine Geschichte führt von Berlin weg, quer durch Europa, auf der Suche nach den Atlantiern. Zu ihnen gehörte der abgeschossene Pilot. Als einziger Stamm haben die Atlantier am technologischen Fortschritt festgehalten. Der Cube ist wohl ihre ultimative Errungenschaft. Es soll hier nicht verraten werden, was dieser Cube kann – aber in der ersten Staffel ist es etwas wenig.
Düstere Zukunft voller Déjà-vus und Klischees
Wenn unbedingt von einem Herzen Europas die Rede sein soll, dann wäre dies wohl die Demokratie. Die hat in „Tribes of Europa“ aber ihre Legitimität eingebüßt. Europa ist in mehrere Interessensgruppen zerfallen. Demokratie gehört der Vergangenheit an; Europa ist jetzt ein politisches und soziales „Wasteland“. Das Projekt „Europa“ ist gescheitert – warum, daraus wird ein Geheimnis gemacht. Es zählt die Etablierung einer neuen Storyworld. Darin kommt einem vieles allzu bekannt vor. Das Setting der Kämpfe bei den Crows, die es den Sklaven ermöglichen, frei zu werden, erinnert an die Kampfarena von Jabba the Hutt. Überhaupt findet sich viel aus den „Star Wars“-Filmen. Kiano wird von seiner Herrin Varvara auf die „dunkle Seite der Macht“ der Crows gezogen. Sein Hass mache ihn stark. Dem Bösen widerstehen, dass wird Kianos Herausforderung sein
Die entscheidende Bedrohung wiederum kommt jedoch nicht aus Europa, sondern aus dem Osten: Elja und Moses begegnen auf ihrer Odyssee Geflüchteten aus dem Altai-Gebirge, einem mittelasiatischen Hochgebirge, an das die Mongolei und China grenzt. Wie die Geflüchteten den Weg nach Europa geschafft haben, bleibt ausgespart. Mit der Geografie nimmt es die Serie aber nicht so ernst. Die ganze Welt ist in der Katastrophe scheinbar zusammengerückt. Die Menschen aus dem Osten sind vor den „schwarzen Schwärmern“ geflohen, die sich langsam nach Europa ausbreiten.
Beim Stichwort „Bedrohung aus dem Osten“ treten einem Schweißperlen auf die Stirn. Man will gar nicht genauer wissen, welches Stereotyp da bemüht wird, um die Welt von „Tribes of Europa“ zu erweitern und Stoff für weitere Staffeln zu haben – die zu sehen ohnehin nicht besonders attraktiv erscheint.