Eigentlich hat Raya nichts Böses im Sinn, als sie ein Mädchen aus einer anderen Provinz zum wundersamen „Drachenstein“ führt. Schließlich ist es Rayas Lebensziel, in die Fußstapfen ihres weisen Vaters Benja zu treten, der als Fürst in einer der fünf Provinzen ihres Heimatlandes Kumandra für Frieden und Sicherheit sorgt. Doch sie lässt sich durch eine Mischung aus Stolz und Überheblichkeit verführen, vor der jungen Namaari aus dem gegnerischen Stamm der „Zahn“ mit dem Drachenstein anzugeben; mehr noch: Raya nimmt sie mit ins Allerheiligste ihres „Herz“-Stammes. Was weitreichende Folgen hat. Denn Namaari will den Stein auf Geheiß ihrer von Neid zerfressenen Mutter stehlen; im Kampf zwischen den beiden Mädchen zerbricht der magische Stein und mit ihm der Frieden in Kumandra.
Das Erbe der Drachen
Das Artefakt war das Zeugnis einer uralten Zeit, als Drachen Frieden über das Land brachten und sich für die Menschen opferten, die Missmut und Zwietracht säten und den bösen Druuns Einlass boten, die die Menschheit zu vernichten drohten. Damals verhinderten die Drachen das Schlimmste, doch sind sie schon lange verschwunden; das Einzige, was den Wohlstand und die relative Sicherheit des auseinanderdriftenden Staatenbundes von Kumandra noch sicherte, war der Drachenstein. Dessen Zerstörung löst auch den Bann, der die Druuns in der Steppe gefangen hielt; sie kehren in die Städte zurück und lassen Menschen zu Stein erstarren – unter ihnen auch Rayas Vater Benja.
Sechs Jahre später ist Raya noch immer zutiefst davon überzeugt, dass an all dem Elend nur sie schuld sei. Auf der Suche nach einem Ausweg ist sie inzwischen erwachsen geworden. Ihr ganzes Streben gilt dem, was die zerrütteten Provinzen „Herz“, „Kamm“, „Schweif“, „Klaue“ und „Zahn“ wieder zusammenführen könnte – jenem legendenhaften Wasserdrachen Sisu, dessen Mut vor 500 Jahren schon einmal die Rettung der Welt vollbrachte.
Doch Sisu ist nicht der, für den ihn alle halten. Er ist vielmehr der schwächste seiner zu Stein erstarrten Geschwister, ein flippiges, tollpatschiges, überfreundliches und grenzenlos naives Wesen. Wie soll Raya mit einem solchen Helfer die in alle fünf Provinzen zerstreuten Drachensteinfragmente zurückholen und zu alter Kraft zusammenschmieden? Und wie soll sie Namaari Einhalt gebieten, die auch hinter den Fragmenten her ist, um ihre „Zahn“-Provinz zur mächtigsten zu machen? Zumindest hat sich um Raya eine Truppe mehr oder minder verwegener Kumpane versammelt, die mit ihr dem hoffnungslosen Traum eines vereinten Reiches anhängen.
Und wenn Sie nicht gestorben sind…
Ganz so einfach haben es sich die Drehbuchautoren des 59. Disney-Animationsfilms doch nicht gemacht. 107 stolze Minuten lang gilt es, Helden ins Wanken zu bringen, alte Träume zu zerstören und neue zu kreieren. So klischeehaft die Figurenkonstellation zunächst auch erscheinen mag, schwimmt sich „Raya und der letzte Drache“ doch davon frei. Es geht dem Film um eine Abrechnung mit verfestigten Traditionen, um die Kurzsichtigkeit politischen Handelns, der Destruktivität des Konkurrenzdenkens und den Folgen tief verankerten Neids.
Dagegen helfen nur Freunde und Freude. „Warum suchen wir nicht einfach ein schönes Geschenk für Namaari und erfreuen sie, die Freude noch nie kennengelernt hat? Dann sollte alles gut werden!“ So ein Plan kann nur aus dem Mund eines weltfremden Drachen kommen! „Raya und der letzte Drache“ führt seinem jungen Publikum (und dessen Eltern) anschaulich vor Augen, warum das mit dem Weltretten und einem friedlichen Leben so schwierig und trotzdem die einzige Option ist.
Disney ist allerdings nicht Pixar. Deshalb übersetzt Regisseur Don Hall diese ebenso banalen wie entwaffnenden Erkenntnisse nicht so leichtfüßig und virtuos und auch nicht ganz so stilsicher in wunderbar kreative Animationen. Die Drachen haben mehr von den kitschig-tumben Teletubbies als von ehrfurchtsgebietenden Fabelwesen an sich. Ein Gaunerbaby ist einen Tick zu kantig gezeichnet, und das kulturelle Setting der Geschichte gleicht zu sehr einem westlich-infantilen Gemischtwarenladen. Esprit verströmen allenfalls der zehnjährige Koch Boun, der an den quirligen Wan „Short Round“ Li aus „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ erinnert, sowie Rayas Freund Tuk Tuk, ein originelles Fantasy-Wesen als Mischung aus Gürteltier und Kellerassel.
Friede ist möglich
„Raya und der letzte Drache“ unterhält kurzweilig und vermittelt nachdrücklich die Botschaft, wie wichtig es ist, sich mit möglichst vielen (Erden-)Bürgern unterschiedlichster Couleur zu umgeben. Es ist herzerfrischend, wie sinnstiftend es sein kann, auf einfache Wahrheiten zu hören und nicht zuallererst an sich selbst zu denken. Friede ist möglich! Mit, aber auch ohne Drachen!